Obsession
Frau gewesen, und
er hatte sie geliebt. Jacob war ihr Sohn, und |38| das war alles, was zählte. Er verachtete sich dafür, ihr misstraut zu haben. Er drückte den Stummel aus und putzte sich die
Nase. Die Zeitungsausschnitte lagen noch immer über das Sofa verteilt, doch nun hatten sie ihre Macht verloren. Es waren lediglich
Papierschnipsel. Er hatte überreagiert, was ihn ärgerte. Und beschämte.
Er raffte sie zusammen, um sie wegzuwerfen. Während er sie zusammenknüllte, klingelte das Telefon. Er schniefte, räusperte
sich und wischte die Tränen weg, ehe er sich meldete. «Hallo?»
«Hallo, Ben. Ich bin’s, Geoffrey.»
Als er die Stimme seines Schwiegervaters hörte, bekam Ben ein schlechtes Gewissen. «Tut mir leid, Geoffrey, ich wollte anrufen,
ich weiß.» Das hatte er Sarahs Eltern nach der Beerdigung zum Abschied versprochen.
«Schon gut. Du hast im Moment genug am Hals. Ich dachte nur, ich melde mich mal und schaue, wie du zurechtkommst.»
«Ach ... geht schon.» Er wechselte das Thema. «Seit ihr gut zurück nach Leicester gekommen?»
«Ohne Probleme.»
«Du weißt, dass ihr hier hättet übernachten können.» Er wusste, dass Geoffrey nicht gerne fuhr.
«Das weiß ich doch, aber Alice wollte nach Hause. Du kennst sie ja.»
Ben wusste, was er meinte. Alice hatte Sarah nie verziehen, dass sie zweimal nach London gezogen war: das erste Mal, um Arbeit
zu finden, das zweite Mal, nachdem die beiden sie nach Jacobs Geburt wieder zu Hause aufgenommen hatten. «Wie kommt sie zurecht?»
«Ganz gut.» Sein Ton sagte etwas anderes. «Sie ist jetzt im Bett. Das ist alles ein bisschen zu viel auf einmal.»
|39| Eine betretene Stille kam auf. Ben spürte, dass der ältere Mann das Gespräch nicht beenden wollte, obwohl es nichts mehr zu
sagen gab, was nicht schon gesagt worden wäre. Er wusste, wie schwer Sarahs Tod seinen Schwiegervater getroffen hatte. Das
Gespräch mit ihrem Ehemann war eine Art, sich ihr nahe zu fühlen. Ein schwacher Trost zwar, aber es war alles, was ihm blieb,
und besser als das einsame Haus, in dem oben seine trauernde Frau schlief. Um das Telefonat zu verlängern und zugleich die
letzten Zweifel zu verdrängen, sagte Ben: «Ich habe gerade daran denken müssen, wie Sarah Jacob bekommen hat.»
«Es kommt mir vor, als wäre es vor zwei Minuten gewesen. Ich kann nicht glauben, dass es sechs Jahre her ist.»
«War es eine schnelle Geburt?», fragte er, obwohl er die Antwort bereits kannte.
«Nach zwei Stunden war alles vorbei. Wir haben immer gesagt, er hatte es eilig. Die arme Alice ist fast durchgedreht vor lauter
Sorge. Ein oder zwei Tage vorher waren wir gerade in London gewesen, und wenn sie gewusst hätte, dass das Kind sechs Wochen
zu früh auf die Welt kommen würde, hätten sie keine zehn Pferde von dort weggekriegt. Ich war jedenfalls froh, dass Jessica
zur Stelle war.»
«Es gab aber keine Anzeichen dafür, dass Jacob eine Frühgeburt wird, oder?»
«Überhaupt keine. Nein, deshalb war es ja auch so eine Überraschung. Ein paar Tage vorher hatte Sarah Krämpfe – deswegen wollte
Alice sie auch unbedingt besuchen. Aber als wir dort waren, hörten sie auf. Alice hat sie zum Arzt geschleppt, aber er sagte,
dass alles in Ordnung sei.»
Seine Stimme klang etwas beunruhigt. «Es gibt doch keine Probleme, oder? Mit Jacob, meine ich.»
Ben spürte, wie der letzte Hauch eines Zweifels von ihm |40| abfiel. «Nein, ihm geht es gut. Ich habe mich nur ... ich war nur neugierig.»
Mit einem Mal klang Sarahs Vater müde und alt. Wenn er aus der Erinnerung einen kurzen Trost gezogen hatte, dann war er nun
verschwunden. «Ich habe mich oft gefragt, ob die Frühgeburt etwas mit Jacobs ... mit dem Autismus zu tun hat.»
«Das glaube ich nicht.» Es gab unterschiedliche Meinungen über die Ursachen von Autismus, aber soweit Ben wusste, zählte eine
Frühgeburt nicht dazu.
«Nein, da hast du wohl recht.» Geoffrey bemühte sich, heiter zu klingen. «Er war ja auch kein armer, kleiner Wurm oder so.»
Später wünschte Ben, er hätte das Gespräch an diesem Punkt beendet und so die Frage nach Jacobs Geburt für geklärt gehalten.
Aber er hatte es nicht getan.
«Nein?», fragte er, ohne noch richtig zuzuhören.
Sarahs Vater lachte in sich hinein. «Wir haben schon immer gescherzt, dass sich da jemand mit den Terminen vertan haben musste.
Er wog über sechs Pfund. Hätte man es nicht besser gewusst, man hätte ihn niemals für eine
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