Ocean Rose Trilogie Bd. 3 - Erfüllung
machst.«
»Worüber?«
Ihre kurze Stille reichte, damit mir die Antwort selber klar wurde.
»Charlotte … hatte nie vor, die anderen Nenuphars zu besuchen?«, fragte ich.
»Doch, zumindest hat sie darauf gehofft. Sie wollte herausfinden, ob eine Versöhnung möglich ist. Vielleicht hätten die anderen ihr vergeben, dass sie abtrünnig geworden ist, und ihr noch rechtzeitig geholfen. Aber Charlotte wusste auch, dass dazu nicht viel Zeit blieb und ihre Chancen immer geringer wurden, je länger sie in Winter Harbor blieb.«
Ich versuchte, mit diesem Gedanken fertig zu werden. »Du meinst, sie ist extra hergekommen, um mich zu besuchen? Das war nicht nur ein Zwischenstopp?«
»Ja, genau. Einerseits wollte sie dir Freiraum lassen, wie du es letzten Herbst von ihr verlangt hast, aber andererseits wollte sie dir auch noch einiges beibringen, bevor es zu spät für sie war. Wahrscheinlich hat sie so getan, als sei ihr Besuch ganz spontan, damit du sie bereitwilliger aufnimmst.«
»Soll das heißen, indem sie hiergeblieben ist … bei mir … hat sie ihr Leben riskiert?«
Betty neigte den Kopf zur Seite. »Sie hat ihr Leben seit Jahren riskiert, Vanessa. Für kurze Zeit hast du es ihr zurückgegeben.«
Ich bemerkte nur unbewusst, dass mir die Knie weich wurden, ging um das Bett herum und sank auf den Fenstersitz.
»Aber was ist mit letztem Herbst?«, fragte ich. »Am Grund des Sees war sie unglaublich mächtig. Sie sah jung und gesund aus.«
»Sie sah so jung aus, wie sie eigentlich war. Weil sie sich die nötige Kraft geholt hat, um Raina und den Sirenenclan zu besiegen. Das heißt, sie hat jemandem das Leben genommen.«
Ich zwang mich, über diesen Punkt nicht näher nachzudenken. »Seitdem sind doch nur ein paar Monate vergangen. Was ist passiert?«
Betty zögerte. »Bevor ich weiterrede, muss ich wissen … hat Charlotte dir erzählt, was in Zukunft auf dich wartet? Was du tun musst, um zu –«
»Ja«, fiel ich ihr ins Wort, damit sie die Worte nicht laut aussprach. »Darüber weiß ich Bescheid.«
»Nun gut.« Bettys Blick wanderte zu dem Bett und blieb ein Stück über Charlottes verdecktem Gesicht hängen. »Diesen Teil ihres Schicksals wollte deine Mutter nie erfüllen, wie du schon weißt, da sie das Leben deines Vaters verschont hat und nach Boston geflüchtet ist. Doch als Ergebnis verlief der Alterungsprozess bei ihr schneller als gewöhnlich. Deshalb sah sie aus wie deine Großmutter und nicht wie deine Mutter, als du sie zum ersten Mal getroffen hast. Wie du inzwischen weißt, haben Nenuphars stärkere körperliche Bedürfnisse als andere Sirenen. So kam es, dass sie unter den Entzugssymptomen noch sichtbarer litt, als eine gewöhnliche Sirene es getan hätte.«
Ich sah Charlotte vor mir, wie ich sie zum ersten Mal im Café getroffen hatte – bevor ich wusste, wer sie in Wirklichkeit war –, und erinnerte mich an das Getränk aus Seetang, das sie mir serviert hatte. Unwillkürlich kamen mir die Tränen, aber ich blinzelte sie fort.
»Durch die Lebenskraft, die sie einem anderen genommen hat, wurde ihre biologische Uhr zurückgestellt. Sie konnte auf der Stelle über eine scheinbar grenzenlose Energie und Vitalität verfügen«, sagte Betty. »Aber das war auch kein Wunder, denn die Macht, die wir gewinnen, ist beim ersten Mal immer am stärksten.«
Mir stockte der Atem. »Beim ersten Mal?«, flüsterte ich fast.
Bettys Gesicht wandte sich mir zu. »Also hat sie dir nicht alles erzählt.« Sie seufzte. »Ja, wenn wir ein langes und scheinbar normales Leben führen wollen, müssen wir die Energie von anderen rauben. Ein einziger Mann kann uns für Monate ernähren, doch wenn seine Lebenskraft verbraucht ist, beginnt der Alterungsprozess wieder … und zwar schneller als zuvor. Charlottes Schicksal war vorgezeichnet. Um es abzuwenden, hätte sie wieder töten müssen. Und obwohl sie dich mehr geliebt hat, als du ahnst, und jeder Moment in deiner Nähe sie überglücklich gemacht hat, konnte sie sich nicht dazu bringen. Solch eine Rolle wollte sie in deinem Leben nicht spielen.«
Erneut traten mir Tränen in die Augen, und diesmal versuchte ich nicht, sie zu unterdrücken. »Also blieb ihr nur die Wahl zu sterben?«
»Charlotte fand, besser sie selbst als jemand anderer.«
Ich drehte mich zum Fenster und presste die Stirn gegen den kühlen Metallrahmen. Dabei konzentrierte ich mich nur darauf, ein- und auszuatmen.
»Und was ist mit dir?«, flüsterte ich. »Heißt das, du hast
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