Ocean Rose. Verwandlung (German Edition)
eingeredet, wenn ich nach Boston komme und ganz neu von vorne anfange … dann wäre es einfacher … dann könnte ich vielleicht vergessen …«
»Paige.« Ich nahm ihre Hand und drehte sie zu mir um. »So etwas vergisst man nicht. Es spielt keine Rolle, an welchem Ort du bist oder wie viel Zeit vergeht.« Ich holte tief Luft und hatte das Gefühl, als würde ich mir selbst Mut zusprechen. »Aber trotzdem wirst du jetzt dort in das Gebäude gehen. Du wirst dich in die Klasse setzen, neue Leute kennenlernen und immer einen Tag nach dem anderen leben. Genau wie ich.«
Sie warf mir ein schwaches Lächeln zu. »Dabei habe ich gedacht, du fürchtest dich vor deinem eigenen Schatten.«
Damit hatte sie recht. Vermutlich fürchtete ich mich davor noch mehr als früher. Im Übrigen hatte ich Angst vor der Dunkelheit, vor dem Fliegen und vor Gruselfilmen. Aber in diesem Moment war meine größte Furcht, dass ich die Person im Stich lassen könnte, die meine beste Freundin war und sich täglich mehr wie eine Schwester anfühlte.
Ich hakte mich bei Paige unter und führte sie durch den Metallbogen. Dann brachte ich sie zum Schulbüro, half ihr bei dem Papierkram, zeigte ihr den richtigen Spind und lotste sie zum Klassenzimmer. Als ich wenig später zu meinem eigenen Spind am anderen Ende des Gebäudes lief, fühlte ich mich ruhiger und selbstbewusster als jemals zuvor an einem ersten Schultag.
Und deshalb antwortete ich dem Nächsten, der mich nach meinem Befinden fragte, mit der absoluten Wahrheit.
»Nein, mir geht es nicht gut«, sagte ich, ohne auch nur um die Spindtür zu schauen und festzustellen, mit wem ich sprach. »Letztes Schuljahr wusste niemand von euch, wer ich bin, ohne vorher im Jahrbuch nachzuschlagen. Und jetzt starrt ihr mich an und tuschelt und heuchelt Betroffenheit, als ob euer Numerus clausus davon abhängen würde. Ja, meine Schwester ist gestorben – und nein, deshalb sind wir nicht plötzlich Freunde.«
Ich ließ die Spindtür zufallen, und sie schloss sich mit einem Knall.
»Deine Schwester ist gestorben?«
Mir fiel die Kinnlade herunter. Ich brachte keinen Ton heraus.
»Das tut mir leid. Wirklich. Ich hatte ja keine Ahnung.«
Vor mir stand Parker King, der aussah wie ein geschniegeltes Ralph-Lauren-Model und auch so duftete.
Parker King hatte noch nie vor mir gestanden. Er hatte nie mit mir gesprochen. Vermutlich hatte er mich außerdem nie gesehen, denn wenn er sich nicht gerade in der Schulschwimmhalle durch gegnerische Wasserballspieler kämpfte, war er stets von einer Horde hübscher Mädchen umgeben, die um seine Aufmerksamkeit bettelten. Und doch stand er jetzt hier, wollte wissen, ob es mir gutging, und klang dabei sogar ehrlich.
Ich glaubte Parker, dass er nichts von Justines Tod gewusst hatte. Das hätte mich freuen sollen, immerhin hatte er nicht nur aus falschem Mitleid mit mir geredet.
Allerdings bedeutete es gleichzeitig, dass er einen anderen Grund gehabt hatte, ein Gespräch mit mir anzufangen. Und dieser Grund war viel, viel schlimmer.
K APITEL 3
F ünf sehr lange Tage später saßen Paige und ich in der Hauptbibliothek des Bates College und warteten auf Simon.
»Wie viele Bücher sollen in diesem ›Mekka des Wissens‹ stehen, von dem er als dein Tourführer geschwärmt hat?«, flüsterte sie und ließ sich neben mir auf einen Sessel plumpsen.
»Sechshunderttausend«, flüsterte ich zurück.
»So viele Bücher, und dabei haben sie nur zwei winzige Bände über Nixen und Sirenen.«
Ich spürte einen plötzlichen Stich in der Brust, denn ich hatte Paige nichts davon erzählt, wie ich mich diesen Sommer verwandelt hatte – die gleiche Art von Verwandlung, die ihre Mutter und Schwester eigentlich für sie vorgesehen hatten. Daher traf mich diese unerwartete Bemerkung besonders.
»Ich dachte, du wolltest nachschauen, ob es hier auch eine geheime Regalecke mit Liebesschnulzen gibt«, sagte ich.
»Und ich bin fündig geworden!« Sie hielt eins der beiden Bücher hoch.
» Der Lockruf der Sirene: Lässt du dich betören? « Stirnrunzelnd betrachtete ich das Buchcover, auf dem eine Nixe mit enormer Oberweite einen kopflosen Männerkörper umschlungen hielt.
»Zumindest dürfte es unterhaltsamer sein als das hier.« Sie hielt mir das zweite Buch vor die Nase, dessen Umschlag schlicht braun war.
»Die Odyssee ?«
»Ich weiß, sieht gähnend langweilig aus, aber immerhin ist es neu für mich. In meiner Schule wurde kein besonderer Wert auf die Klassiker gelegt. Oder
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