Ocean Rose. Verwandlung (German Edition)
vielleicht stand es nicht auf dem Lehrplan, weil ein gewisses einflussreiches Mitglied der Handelskammer unerwünschte Bücher auf den Index gesetzt hatte.«
Ich studierte ihren Gesichtsausdruck, während sie durch die Seiten blätterte. Natürlich konnte sie damit nur eine Person gemeint haben: Raina Marchand. Doch Paige hatte seit Monaten kein einziges Mal über ihre Mutter geredet – und auch nicht über ihre Schwester Zara oder ihren Verlobten Jonathan. Sie hatte weder im Krankenhaus von ihnen gesprochen, als sie sich vom Tod ihres Babys erholte, das ihr Körper als Fremdkörper abgestoßen hatte, noch zu Hause nach ihrer Entlassung oder in der ganzen Zeit hier in Boston, seit ich sie eingeladen hatte, das Schuljahr bei mir zu verbringen. Natürlich hieß das nicht, dass sie nie daran dachte. Manchmal verschwand jeder Ausdruck aus ihrem Gesicht, und Tränen traten ihr in die Augen. Also wusste ich, dass ihre Gedanken viel zu oft nach Winter Harbor wanderten. Aber jetzt hatte sie ihre Mutter zum ersten Mal erwähnt und dabei so beiläufig geklungen, dass ich mir echte Sorgen machte. Tatsächlich hätte ich es normaler gefunden, wenn sie mitten in der Bibliothek in einen Weinkrampf ausgebrochen wäre.
»Bist du sicher, dass es eine gute Idee ist, nach Sirenenbüchern zu suchen?«
»Irgendwann muss ich schließlich mehr über das Thema herausfinden. Warum nicht jetzt und hier?«
Bevor ich antworten konnte, tauchte Simon hinter meinem Stuhl auf und setzte sich auf die Kante des Couchtisches.
»Hallo«, sagte er, »tut mir leid, dass ich zu spät komme. Wenn mein Orch-Professor erst mal loslegt, hört er so schnell nicht wieder auf.«
»Orch?«, fragte Paige.
»Organische Chemie«, erklärte er und fügte lächelnd hinzu: »Schön, dich zu sehen, Paige. Ich bin froh, dass du mitgekommen bist.«
»Eigentlich wollte ich mich nicht aufdrängen. Ich habe mein Bestes getan, großes Ehrenwort.« Sie hob die Hand wie zum Schwur. »Aber Vanessa meinte, wenn ich nicht mitkomme, fährt sie auch nicht, also blieb mir keine Wahl.«
Jetzt lächelte Simon mich an, und der Schmerz in meiner Brust wurde augenblicklich von einem warmen Gefühl verdrängt. Hätten wir uns nicht an einem so öffentlichen Ort befunden, wäre ich ihm auf den Schoß gesprungen und hätte ihm die Arme um den Hals geschlungen.
»Jetzt haben wir schon zweiundzwanzig.«
Überrascht schaute ich auf und sah einen Jungen hinter Simon stehen. Er war groß und schlank mit blonden, zu wuscheligen Wellen gekämmten Locken. Zu seiner weiten Jeans hatte er ein T-Shirt mit dem Logo der Uni-Sportmannschaft an und hielt ein aufgeklapptes Notebook in den Händen.
»Zweiundzwanzig Grad und erst zwei Uhr. Wenn wir jetzt starten, bleibt uns genug Zeit.«
»Wofür?«, erkundigte sich Paige.
Der Typ schaute über den Bildschirm hinweg. Ich hielt den Atem an und wartete auf den speziellen Blick, vor dem ich schon die ganze Schulwoche geflüchtet war, aber er schien mich nicht einmal zu bemerken. Kaum hatte er Paige gesehen, blieben seine Blicke wie hypnotisiert an ihr haften.
»Für den Strand«, erklärte Simon. »Das hier ist Riley, mein extrem kalifornischer Zimmergenosse, der andeuten will, dass wir bei diesem tollen Wetter nicht an der Uni rumhängen sollten.«
»Hi, ich bin Riley«, stellte Riley sich vor. Anscheinend war ihm entgangen, dass Simon ihn gerade vorgestellt hatte. »Und du heißt …?«
»Paige«, sagte sie und errötete. »Ich bin eine Freundin von Vanessa.«
Riley verlagerte sein Notebook auf den linken Arm und streckte mir seine Hand entgegen. »Ah, die berühmte Vanessa. Ich bin begeistert, dich endlich kennenzulernen. Bestimmt wirst du froh sein zu erfahren, dass ich Simon bei jedem Anfall von Liebeskummer – also so ziemlich jede Minute, in der er nicht bei dir sein kann – nach besten Kräften ablenke.«
»Wir gucken ständig DVDs«, erklärte Simon.
Lächelnd schüttelte ich Rileys Hand. »Danke. Ich freue mich auch.«
»Also, was ist jetzt? Ein bisschen in der Sonne brutzeln? Ein kurzer Sprung ins Meerwasser? Bevor hier wieder der mörderische Ausnahmezustand einsetzt, den ihr Ostküstler als Winter bezeichnet?«
»Ist der Strand nicht ziemlich weit weg?«, fragte ich.
»Vierzig Minuten«, antwortete Simon.
»Dreißig«, korrigierte Riley. »Ich fahre.«
Simon warf mir einen Blick zu, und hinter den Brillengläsern sah ich Besorgnis in seinen braunen Augen. Mir war klar, dass er an meinen letzten »Schwimmausflug« in
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