Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort

Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort

Titel: Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
Vom Netzwerk:
erst ermöglichte. Löwenthal erzählte von seinen Aktionen ohne Prahlerei und ohne Bescheidenheit. Er sprach sachlich, brachte Fakten vor. Informationen. Schließlich habe er ein Buch darüber geschrieben, erinnerte er Michael. Er interessiere sich ganz besonders für das russische Judentum, sagte er begeistert, voll jugendlicher Energie. Bei uns, dachte Michael, findet man nur bei den Rechten eine ähnliche Begeisterung, und bei einigen Trotzkisten der avantgardistischen Bewegung.
    Das Tonband war zu Ende, und Michael wollte sich noch einmal das Band anhören, das er bei seinem Zusammentreffen mit Boris Singer aufgenommen hatte. Er hörte das Knarren des Bettes, als Löwenthal sich auf den Rand setzte, als setze er sich neben seinen Vater, und dann hörte Michael die Stimme Löwenthals, der sich in fließendem Jiddisch an Boris wandte, gemischt mit amerikanischen Worten. »Woß?« hörte Michael das erste jiddische Wort, das er verstand, aus dem Mund des vertrockneten Mannes, der auf dem großen Bett saß. Auf dem Tisch neben dem Bett lagen Süßigkeiten, jiddische Zeitungen, eine hebräische Bibel. Auch ein Fernsehapparat und Blumensträuße standen darauf.
    »Ich werde ihm erklären, daß Sie noch ein Literaturforscher sind, daß es eine neue Ausgabe von Ferbers Gedichten geben soll. Kein Wort über Mord oder über Gerichtsverfahren«, hatte Löwenthal gesagt, als er endlich seine Anweisungen beendet hatte und Michael in das Krankenzimmer geführt hatte.
    Der Körper in dem großen Bett war ein Wrack, wie Löwenthal gesagt hatte. Aber die Augen! Wie die Augen der Propheten, die ich in meiner Phantasie gesehen habe, als ich ein Kind war, dachte Michael, als er in die tiefen, braunen Augen schaute, voller Erregung und Wissen. Löwenthal klopfte die Kissen auf und schob sie dem Mann, der sich aufsetzte, hinter den Rücken. Er hatte eine weiße Mähne über einem schmalen, krankhaft rosafarbenen Gesicht, und ein unschuldiges, lebendiges Lächeln.
    Nun kam die Stimme des Mannes vom Band, und wieder fühlte Michael, wie bereits im Krankenhaus, daß er auch auf der Rückreise nicht in New York bleiben, sondern sofort nach Israel zurückfahren würde.
    »Anatoli«, sagte Singer mit einer Stimme voller Sehnsucht und Verlangen, und begann, einige Zeilen aus Paarweises Gebet auf dem schwarzen Platz zu zitieren, nur daß er vom »roten Platz« sprach, und Michael hatte plötzlich das Gefühl, genau zu wissen, was mit Ido Duda'i in jener Nacht passiert war. Es war erschütternd, sich vorzustellen, daß Tirosch die Worte geändert hatte, die die Quelle des Gedichts hätten verraten können. Boris Singer erzählte. Manchmal sprach er Jiddisch, und dann übersetzte Löwenthal das Gesagte, ohne daß Michael ihn darum bitten mußte, aber im allgemeinen sprach er ein sauberes Hebräisch.
    Mit leiser Stimme, die sich nun so fremd anhörte, so künstlich, stellte Michael die erste Frage nach der hebräischen Sprache. Anatoli, erklärte Boris, habe ein ausgezeichnetes Hebräisch gesprochen, Anatoli habe es ihm beigebracht. Ganze Tage habe er ihn unterrichtet, und im Lager habe er, Boris, die Gedichte auswendig lernen müssen, damit er sie, falls, Gott behüte, etwas passiere, falls Anatoli nicht mehr wäre, bewahren könne. Die anderen dort im Gefängnis hätten kein Wort Hebräisch gekonnt, sie hätten kein Interesse an Gedichten gehabt. Das Hotelzimmer füllte sich mit dem naiven, klingenden Gelächter, das so gar nicht zu der Erscheinung paßte, an die sich Michael erinnerte, an das Gesicht mit den tief in den Höhlen liegenden Augen. Für einen Moment fragte sich Michael, ob der Mann bei klarem Verstand sei. »Wie ist das gegangen?« hatte Michael gefragt, »Anatoli hat die Gedichte aufgeschrieben? Oder hat er sie nur auswendig gewußt?«
    »Beides«, antwortete Boris. »Er hat sie auf Zeitungsränder geschrieben. Na ja, es lohnt sich nicht zu erzählen, wie man im Gefängnis schreibt, es gibt Wege. Alle möglichen Wege und Systeme.«
    Das Aufnahmegerät schwieg für einige Sekunden, dann fuhr Boris leise und weniger begeistert fort zu sprechen. Es gab Lager, erzählte er, in denen es möglich war, Papier zu besorgen, man mußte nur wissen, wo man es dann verstekken konnte. In Perm war ein junger Mann, der Puschkin auswendig gelernt hatte und dessen Werke Tag und Nacht aufschrieb. Aber eigentlich konnte man sich sowieso nicht auf Geschriebenes verlassen, man mußte es auswendig lernen.
    »Wo hat man die Zettel versteckt?« hörte

Weitere Kostenlose Bücher