Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort
dort war er noch mal fünf Jahre, anschließend kam er wieder nach Lubyanka. Weitere vier Jahre verbrachte er in Lefortowo, einem Gefängnis, ebenfalls in Moskau. Danach lebte er in einer Stadt in der Nähe von Moskau, er war ein Held und Mentor der jüngeren Dissidenten geworden. Schließlich gelang es mir vor kurzem, ihn herauszubekommen. Fragen Sie nicht wie, aber ich brachte ihn hierher, zu mir, und er ist die ganze Zeit in medizinischer Behandlung. Er möchte natürlich nach Israel, aber ich bezweifle, ob er in seinem Zustand überhaupt dort ankäme. Sein Englisch ist sehr dürftig, aber wir sprechen Jiddisch und ein bißchen Russisch miteinander, und mit dem jungen Mann, der vor sechs Wochen hier war, der, von dem Sie gesagt haben, daß er beim Tauchen umgekommen sei, hat er die ganze Nacht Hebräisch gesprochen.«
Michael saß in seinem Zimmer im Hotel und übersetzte die Aussagen des Rechtsanwalts von seinem Aufnahmegerät. Jetzt hörte er auf zu schreiben und lauschte seiner eigenen Stimme, die die Umstände von Idos Tod erläuterte. Der amerikanische Rechtsanwalt, Max Löwenthal, zeigte sich erregt über die Art, wie Duda'i gestorben war. Das Wort »devastating« war einige Male zu hören, und Michael schlug in dem Wörterbuch Englisch-Hebräisch nach, das er mitgebracht hatte. »Verheerend« gab das Buch als Übersetzung an.
Er saß am Tisch in einem großen, geräumigen Zimmer, das in Braun und Weiß gehalten war, im Carolina Inn, nicht weit vom Campus und vom Krankenhaus. Es war ein Bau aus der Kolonialzeit, in der kleinen Universitätsstadt Chapel Hill. Man hatte ihn hierhergebracht, nachdem er Max Löwenthal und den kranken Boris Singer ihre Teilaussagen hatte unterschreiben lassen, vor zwei Polizisten, die Löwenthal als Zeugen zugezogen hatte. Löwenthal war Jurist, Michael mußte ihm nichts erklären, nachdem er betont hatte, wie wichtig es für ihn sei, Boris als Zeugen zu hören. Max Löwenthal hatte seine Zweifel geäußert, ob diese Erklärung vom Gericht zugelassen werden würde, weil die Polizisten kein Wort von dem verstanden hatten, was gesagt worden war. Was er, Löwenthal, gesagt hatte, konnten sie vielleicht verstehen, sagte er zweifelnd, wenigstens die Wörter, aber das biblische Hebräisch Singers würden sie vermutlich nicht verstanden haben, sagte er lachend. Das Band war zu Ende.
Michael Ochajon schaute durch das große Fenster hinaus auf die Straße. Die Stadt war vollkommen ruhig. In New York, klagte Schatz, höre man auch im zwölften Stock die ganze Nacht Autos und Lärm, während man hier nur die Grillen zirpen höre. In seinem Zimmer surrte die Klimaanlage. Michael öffnete das Fenster und atmete die feuchte, schwere Luft ein. Im Zimmer verbreitete sich der süße Duft von Magnolien. Der Ort sah wie ein riesiger Wald aus, in den da und dort ein paar Häuser und schmale Straßen gebaut worden waren. Michael konnte nicht einschlafen. Wenn er wieder in Israel wäre, beschloß er, würde er wegen seiner Schlafstörungen einen Arzt aufsuchen. Er setzte sich wieder auf und spielte immer wieder das Band ab, das er im Lauf des Tages aufgenommen hatte. Im Krankenhaus, bevor er das Zimmer betreten durfte, in dem Singer lag, hatte ihn Löwenthal immer wieder ermahnt, ja nicht zu fragen, wie die Gefängnisse gewesen seien, in denen er gesessen hatte, er müsse so feinfühlig und zurückhaltend sein wie nur möglich. Die jüdische Gemeinde in Charlotte, einer nahe gelegenen Stadt, beteilige sich an den Kosten für Singers Krankenhausaufenthalt, erklärte Löwenthal, deshalb könne er auch in einem Einzelzimmer liegen und bekomme die erforderliche ärztliche Betreuung. Der Mann sei innerlich völlig kaputt und sehe, obwohl es ihm jetzt schon besser gehe als am Anfang, uralt aus, sagte Löwenthal seufzend, obwohl er erst fünfundfünfzig sei.
Sein Zustand sei so schlecht, daß jede Aufregung eine Gefahr für ihn bedeute. Nach dem Gespräch mit Ido Duda'i habe er ins Krankenhaus gebracht werden müssen. Während des Gesprächs habe er sich an seine schlimmsten Erlebnisse erinnern müssen, nach denen er, Löwenthal, nicht zu fragen gewagt habe.
Michael drehte das Band um und hörte wieder die lebhafte Stimme Löwenthals. Er sah das schmale, längliche Gesicht vor sich, den kleinen Mund. Was für ein weicher Mund, hatte er gedacht, als er ihn das erste Mal gesehen hatte, bis er immer größere Achtung vor der amerikanischen Naivität bekommen hatte, die ein derart aufreibendes Engagement
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