Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
durchsichtiger Plastikfolie abgedeckt waren, in eine ver schlissene, gelbliche Wolldecke gehüllt, ein echtes Baby, das zornig plärrte und mit den Beinchen strampelte.
Schon als er das Kind auf den Arm nahm und mit ihm in sein Schlafzimmer ging, wo er unbeholfen Zeitungen und ungebügelte Wäsche vom Bett fegte, auf das er das Baby legte, überlegte er, daß er seit dem späten Vormittag die Wohnungstür nicht mehr geöffnet hatte. Er hatte keine Ahnung, wann die Pappschachtel deponiert worden war. Trotzdem versuchte er zu rekonstruieren, wann er das Schreien zum ersten Mal gehört hatte. Aber er konnte nicht mehr sagen, ob das Geräusch, das er in den letzten Stunden immer wieder gehört hatte, von Katzen stammte oder ob es tatsächlich dieses Plärren gewesen war.
Das Baby lag im Schlafzimmer auf dem Bett. Es schien etwa einen Monat alt zu sein. Seine Augen waren wach und blau, und ein dichter Flaum heller, feuchter Haare bedeckte seinen winzigen Kopf. Es ballte seine kleinen Fäuste, die durch die Luft schwangen, hin und wieder das Gesichtchen trafen, doch nie den Weg zum Mund fanden. Michael nahm das Baby wieder auf den Arm. Für ein paar Sekunden verstummte das Schreien, verwandelte sich in ein Hecheln, schwoll aber sofort wieder zu einem lauten, beleidigten Gebrüll an. Michael schob seinen Daumen vorsichtig in den winzigen Mund zwischen die rosa Kiefer, die sich mit großer Kraft um ihn schlossen. Er begriff, daß er es mit einem ausgehungerten Säugling zu tun hatte und keine Möglichkeit hatte, ihm etwas zu trinken zu geben.
Er beugte sich tiefer über das Bett und schlug die Babydecke auf, von der ein modriger Geruch ausging und die gelbliche Wollflusen verlor. Aber das glatte Gesicht des Babys, das völlig durchnäßt war, und sein Hals verströmten den süßlichen Geruch, der Säuglingen eigen ist. Noch bevor Michael das Kind auf den Rücken legte, um die Strampelhose auszuziehen, in der es steckte, fing er automatisch an, zwischen den Fingern und den Halsfalten des Babys win zige, gelbliche Wollfasern zu entfernen, die die kleinen Kör per Neugeborener mit unergründlicher magnetischer Kraft aus ihrer Umgebung ansaugen und die man, selbst wenn man sie jeden Tag badete, stets zwischen ihren Hautfalten und ihren Fingern auffindet.
Das Baby zuckte und zappelte in der Mitte des Betts. Seine Ärmchen fuchtelten durch die Luft, und seine Beinchen strampelten kräftig. Michael nahm es wieder hoch. Er legte es auf seinen linken Unterarm, der allein den ganzen Körper aufnahm, und preßte den Arm gegen den Bauch. All diese Handlungen verrichtete er aus einem inneren Impuls heraus, wie in Trance, als ob er mit einem Mal dreiundzwanzig Jahre zurückgeworfen worden wäre. Vor dem schreienden, hungrigen Säugling wurde in ihm ein altes Gefühl der Hilflosigkeit wach, und plötzlich empfand er eine gewisse Freude. Er hörte sich mit seiner vertrauten Stimme sprechen, wie er in langen wachen Nächten zu Juwal gesprochen hatte. Noch bevor er das Baby entkleidete, während er es noch an die Brust gedrückt hielt, ging er mit ihm ins Badezimmer und ließ warmes Wasser in das Waschbecken laufen. Er flüsterte in das rötliche kleine Ohr, was er als nächstes zu tun gedachte, tauchte den Ellbogen in das Wasser im Waschbecken und breitete ein großes, verwaschenes rosa Badetuch auf der Waschmaschine aus. Dann kramte er in seinem Apothekerschrank nach Talkpuder, und mit abwesender Stimme gestand er dem Baby, daß er nicht fündig geworden war.
Er flüsterte unentwegt in den winzigen Gehörgang, denn er war überzeugt, daß die permanente Berieselung den Hunger in den Hintergrund drängen würde. Die blauen Augen hingen wie hypnotisiert an ihm. Dieser Blick, daran hegte Michael keinen Zweifel, würde nicht lange so offen bleiben. Wenn er das Kind erst gebadet und Schenkel und Po eingecremt hätte, um den wunden Stellen Erleichterung zu bringen, die inzwischen wohl nicht nur rot, sondern nässend waren, und wenn seine Worte und das Wiegen auf dem Arm nicht mehr genügten und für ausreichend Ablenkung sorgten, würde er keine Möglichkeit haben, das einzig Wahre zu tun. Denn ein Fläschchen besaß er nicht.
Als das Wasser die richtige Temperatur hatte, legte Michael den kleinen Körper auf das Badetuch, das er über die Waschmaschine gebreitet hatte. Jedem geballten Fäustchen bot er einen seiner Finger an. Erst viel später würde er sich über die Stärke der Instinkte wundern, die sein Verhalten in diesem Moment
Weitere Kostenlose Bücher