Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand
er war so schön«, beharrte sie, »wie kann jemand, der so schön ist, sich selber hassen?«
»Schönheit ist zuallererst eine Sache des Inneren«, entgegnete Michael, »Schönheit beginnt damit, dass ein Mensch nicht nur schlecht von sich selber denkt.«
»Kann sein, wenn du meinst«, sagte Nesja ganz leise und nachdenklich, »und auch umgekehrt? Dass jemand, der hässlich ist, über sich selber lauter gute Sachen denken kann?«
Jemand klopfte draußen an die Tür, anfangs sanft und schlug dann mit der ganzen Hand dagegen.
»Das ist Mama«, sagte Nesja mit einem kleinen, versöhn lic hen Lächeln, »du kannst ihr jetzt aufmachen. Sie will mich sehen.«
Achtzehntes Kapitel
Dreimal kam der Kleinlaster und fuhr wieder. Und jedes Mal luden die Arbeiter fünf Tanks auf, die sie aus dem Raum unterm Dach herausbeförderten. Ada und Michael standen an dem vergitterten Fenster im Erdgeschoss und sahen, wie sie die Leiter herunterkamen, der eine Arbeiter trug den Tank auf seinem Rücken und der andere stützte ihn von unten, um ihm die Last zu erleichtern. Etliche Male erschrak Ada und fragte, ob die Leiter auch wirklich stabil sei, danach machte sie eine Bemerkung über die Art, in der ein Mordschauplatz geräumt und in ein Schlafzimmer verwandelt würde. Sie sagte nicht »mein Schlafzimmer« und auch nicht »unser Schlafzimmer«, doch bevor er dazukam, sich weitere Gedanken darüber zu machen, sagte sie: »Ist die Tochter der Rosensteins schon angekommen? Haben sie die Untersuchung schon machen lassen?«
»Sie ist angekommen, und sie haben es gemacht«, antwortete er, »aber das geht nicht innerhalb eines Tages, es dauert ein paar Tage mit dem DNA-Ergebnis.«
»Und Zohras Eltern waren damit einverstanden, es zu vergleichen ... sie machen mit?«
»Sie haben zugestimmt, am Ende waren sie einverstanden«, seufzte Michael, während er sich an Rosensteins flehentliche Bitten und an das steinerne Gesicht Ne’ima Bascharis erinnerte.
»Um wie viel wetten wir, dass sie nicht ihre Tochter ist?«, sagte Ada, ohne zu lächeln, »ich weiß es einfach, dass sie’s nicht ist.«
»Gegen ein solches Wissen kann ich nichts einwenden«, äußerte Michael, »du hast sie nicht einmal gesehen, du hast niemanden gesehen, weder Ne’ima Baschari noch die Rosensteins oder Tali, woher willst du das also so genau wissen?«
»Ich weiß es eben, und das hat gar nichts Mystisches«, entgegnete Ada. »Du hast mir selbst von dem Unterschied in den Daten erzählt. Eine ist im November geboren, die andere im Januar, oder nicht?«
»Ich glaube«, sagte Michael nachdenklich, »was dich daran stört, ist, dass alles so auffallend gut zusammenpasst – der Bezug zwischen all diesen sich kreuzenden Geschichten, so als ob das Ganze zu stimmig wäre.«
»Ja und, ist es deiner Meinung nach zufällig?«, fragte Ada.
»Das ist nicht das Thema«, gab Michael zur Antwort, »ich will dir damit nur sagen, dass, auch wenn diese ganzen Zufälle in einem Haus zusammengetroffen wären, das noch lang nicht hieße, dass hier ›die Hand Gottes‹ oder Ähnliches im Spiel ist. Auch was nach Ordnung ausschaut, ist Unordnung, und auch was wie Gesetzmäßigkeit erscheint, ist Chaos. Und sie könnte so gar die Tochter der Bascharis sein, ohne dass dies auch nur irgendetwas besagt.«
Sie blickte ihn eingehend an, nickte und berührte seinen Arm. »Wie lange kann es dauern, bis die Amerikaner ihn ausliefern?«, fragte sie.
»Das kann sich Monate hinziehen«, erwiderte Michael, »aber vielleicht wird der Besuch seines Vaters dort in Baltimore und eine Unterhaltung mit den Eltern dieser Michelle das Ganze beschleunigen. Vielleicht wird sich sein Vater einmal, einmal in seinem Leben, damit konfrontieren, sich ihm gegenüber hinstellen und ...«
»Die Wurzel allen Übels«, sagte Ada und beobachtete ge bannt den Arbeiter, der jetzt die Treppe erreicht hatte und den verrosteten Tank allein schleppte, mit konzentrierten Schritten und gesenktem Kopf, »die Wurzel allen Übels ist die Angst.« Sie fuhr sich mit ihren schmalen Fingern durch das dunkle kurze Haar. »Denn es gibt Eltern, die haben Angst vor ihren Kindern, von Anfang an, schon wenn sie Babys sind, und sie übertra gen diese Angst durch die Art und Weise, wie sie ihre Kinder berühren. Eltern, die sich vor ihren Kindern fürchten, sind so gar noch gefährlicher als solche, die sie vernachlässigen. Mei ner Meinung nach jedenfalls. Hattest du Angst vor deinem Jungen?«
»Manchmal«, gestand Michael,
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