Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand
ein anderer Mensch, du hast einiges hinter dir. Ich denke, wenn jemand lernt, was du in der letzten Zeit gelernt hast, entwickelt er sich, und sein Leben bleibt nicht am gleichen Fleck stehen.«
Sie sah ihn mit einem langen forschenden Blick an, und daher fügte er mit großem Ernst hinzu: »Wenn jemand, besonders ein junger Mensch, eine so schwere Krise durchmacht, wie du es getan hast, und wenn er am Leben bleibt, wie wir in deinem Fall das Glück hatten« – jetzt wagte er es, ihr kurz über den Arm zu streichen –, »dann geht er stärker daraus hervor, als er vorher war.«
»Mein Körper ist aber furchtbar schwach«, zweifelte Nesja, »ich kann das Bein nicht heben.«
»Dein Körper wird wieder stark«, versicherte Michael, »aber ich habe von dir gesprochen, von Nesja, du wirst die Welt und dich mit anderen Augen ansehen.«
»Aber wenn ich eine solche Freundin hätte und ich ihr sagen müsste, dass meine Mutter es nicht erlaubt, dann würde ich es eben sagen und Schluss«, wandte sie verwundert ein, »warum muss man jemanden umbringen? Ist das bei Erwachsenen nicht gleich?«
»Nicht ganz, nicht immer, oft ist es schon so, aber ...« Michael überlegte. »In diesem Fall ... es gab noch mehr Verwicklungen in diesem Fall.«
»Warum?«, verlangte Nesja zu wissen, und Michael blickte sie ratlos an. Er hatte keine Ahnung, ob er ihr von der Schwangerschaft erzählen sollte. Was wusste ein Mädchen in ihrem Alter von Sex?
»Jetzt sagst du gleich zu mir, dass ich zu klein bin, um das zu verstehen«, trumpfte sie mit schwächlicher Stimme auf, »jetzt sagst du garantiert zu mir, dass ich erst älter werden muss ...« Sie heftete ihren Blick an die Decke, wobei sie ihn heimlich aus den Augenwinkeln beobachtete.
»Sie ...«, räusperte sich Michael, »sie waren schon ... er hatte ihr versprochen ... und sie, Zohra, sie war schon ... er hatte ihr versprochen, sie zu heiraten, und sie hätte das nicht stillschweigend hingenommen ...«
Nesja sah ihn misstrauisch an, und er schwenkte um und sagte schlicht: »Sie waren schon wie Mann und Frau, Zohra war schwanger.«
»Aha«, erwiderte Nesja, »jetzt verstehe ich. Das heißt«, fuhr sie ohne jede Verlegenheit fort, »das ist wie in ›Ruhelose Jugend‹, das habe ich schon verstanden. Da war ein ... kennst du es?« Er schüttelte den Kopf und wollte etwas über seine mangelnde freie Zeit sagen, doch Nesja wartete seine Erklärung nicht ab. »Gut«, sagte sie, »da gibt es eine, egal, wie sie heißt, und sie ist von einem Jungen schwanger, weil sie sexuelle Beziehungen miteinander hatten.« Sie blickte ihn an, um sich zu vergewissern, dass er auch zuhörte, oder vielleicht um zu sehen, ob ihn ihre Worte aus der Fassung brachten. Nachdem er ihren Blick erwiderte, fuhr sie fort, jedes einzelne Wort abwägend: »Die Schulschwester hat uns von der sexuellen Beziehung erzählt, aber ich hab’s auch schon vorher gewusst. In dem Film im Fernsehen sagt das Mädchen zu dem Jungen, dass sie es allen erzählen würde, sie war wirklich wütend auf ihn, und er hat zu ihr gesagt: ›Das ist Erpressung, nichts anderes als Erpressung.‹ Hat Zohra ihn auch erpresst, den Joram?«
»So könnte man sagen«, erwiderte Michael widerwillig, »aber das wissen wir noch nicht genau.«
»Ich ...«, sagte Nesja und schloss die Augen, wie von großer Schwäche überwältigt, »ich habe ihn einmal eine Katze überfahren sehen. Er ist mit dem Auto drübergefahren, die Katze war da so auf der Straße, total zerquetscht. Und er, er ist ausgestiegen und hat die Räder angeschaut, um zu sehen, ob sie dreckig geworden sind, die Autoräder. Es war ihm völlig egal wegen der Katze, er hat sie mitten auf der Straße so liegen lassen, wie irgend ein ... wie ein Stück Dreck.«
»Bist du mit dem Hund hinausgegangen am Abend von Sukkot?«, erkundigte sich Michael wie beiläufig und sah, wie ihre Finger flatterten.
»Willst du es mir nicht erzählen?«, fragte er.
»Nicht jetzt«, flüsterte Nesja, schenkte ihm einen kurzen Blick und dann schlossen sich ihre Augen wieder, »ein andermal, vielleicht morgen. Morgen erzähl ich’s dir.«
Michael nickte. Er dachte daran, dass er das Zimmer jetzt verlassen und ihr Ruhe gönnen sollte, aber als er an die Bettkante rutschte, schlug Nesja schnell die Augen auf und fragte: »Also hat er sie nicht geliebt?«
Michael seufzte: »Es gibt Menschen, die nicht wissen, wie man liebt, und nicht lieben können, weil sie etwas in sich selbst furcht bar hassen.«
»Aber
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