October Daye: Nachtmahr (German Edition)
Gespenst.
»Wieso?«, fragte er.
»Weil du sie nahmst, als sie mir gehörte.«
»Und das menschliche Kind?«
»Weil alles zusammenhängt.« Sie schüttelte den Kopf. »Nichts ist völlig losgelöst.«
»Ich werde das Ganze hier nicht einfach vergessen.«
»Nein«, sagte sie traurig und sah kurz zu mir herüber. »Das ist wohl nicht deine Art.«
Ich schüttelte Mays Hände ab und trat neben die Luidaeg, dann sah ich dem Mann ins Gesicht, dessen Gefangene ich gewesen war. Hinter ihm drängte sich wirr seine Jagdtruppe, Kinder und Reiter wild durcheinander. Hinter mir aber waren alle, die gekommen waren, um ihre Kinder zu befreien, und weinten vor Freude. Leise sagte ich: »Auch ich vergesse es nicht. Und ich verzeihe es nie.«
Die Luidaeg betrachtete mich und lächelte. Blind Michael sagte kein Wort mehr. Er wandte sich ab und schritt mit wehendem Umhang zu seinem Pferd zurück. Dann schwang er sich in den Sattel. Stumm führte er den Rest seiner Truppen in die Nacht, und sie verblassten, als sie davonritten, lösten sich auf zu Nebel und Schatten. Nur Acacia blieb noch stehen und schaute ihnen nach.
»Ein gutes Treffen, Schwester«, sagte die Luidaeg.
»Für einige von uns schon. Es tut wohl, dich zu sehen«, erwiderte Acacia, die noch immer den Reitern nachsah. Als der letzte von ihnen verschwunden war, wandte sie sich zu mir und lächelte. »Du hast es wirklich geschafft. Du bist frei.«
»Das erstaunt mich ebenso wie Euch«, bemerkte ich, zog mir Mays Umhang enger um die Schultern und fragte: »Geht Ihr mit ihm?«
»Ja. Das tue ich.«
»Weshalb? Er wollte Euch ersetzen.« Ich war mir nicht ganz im Klaren darüber, was das für sie bedeutet hätte. Aber ganz sicher nichts Gutes.
»Ich habe diesen Ritt schon zu viele Male mitgemacht, ich habe keine anderen Pfade mehr.« Sie wiegte den Kopf und sah nun die Luidaeg an. »Blind Michael ist mein Gemahl. Ich folge ihm.«
»Das müsst Ihr nicht«, sagte ich.
»Nicht?« Acacia lächelte. »Für mich gibt es hier nichts.«
»Gar nichts?«, fragte die Luidaeg.
»Mutter?«, erklang eine Stimme hinter mir. Sie klang sanft, beinahe ängstlich. Acacia erstarrte, ihr Blick fixierte etwas über unseren Köpfen. Ich wandte mich um und sah zu, wie Luna aus der Dunkelheit trat.
Sie ging zur anderen Seite der Luidaeg, blieb stehen und streifte ihre Kapuze zurück. Sie sah erschöpft aus. Unter ihren Augen lagen tiefe Schatten, die noch nicht da gewesen waren, als ich sie zuletzt gesehen hatte. Was hatte es sie gekostet, mich auf den Rosenpfad zu bringen? Doch ihre Augen waren noch braun, und sie hatte noch ihre silbern bepelzten Fuchsohren. In ihr Haar aber waren Rosen geflochten, vielleicht als Zeichen der Erinnerung daran, wer sie einst gewesen war, vor langer, langer Zeit. »Mutter«, wiederholte sie.
»Luna«, flüsterte Acacia und hob eine Hand. Sie berührte den Rand des Lichtkegels mit den Fingerspitzen und zuckte zurück. »Ich … oh, Luna. Ich kann dich nicht erreichen.«
»Ich weiß«, sagte Luna. »Du bist zu sehr Teil von Vaters Königreich. Der Kreis enthält einen starken Schutzbann gegen seinen Zauber.«
»Ja, ich weiß.«
»Wir könnten dich herüberziehen … «
»Und wozu? Um mich zu verwandeln, wie du dich verwandelt hast? Mich von ihm frei zu machen? Willst du mich festhalten, wenn ich beiße und um mich schlage und dich verbrenne? Willst du meine Nacktheit bedecken und mich befreien?«
»Ja.« Lunas Antwort ließ keinen Platz für Zweifel.
Acacia lächelte bittersüß. »Ich glaube dir. Ich habe dich so vermisst, kleine Rose.«
»Ich habe dich auch vermisst.«
»Komm doch nach Hause.«
»Nein.«
»Das dachte ich mir schon.« Ihr Lächeln wurde weicher und trauriger. »Ich hörte, du hast geheiratet.«
»Ja, so ist es. Er liebt mich, trotz allem.« Luna sah kurz zu mir. Ich schaute weg.
»Das ist klug von ihm. Liebe zählt.« Acacias Lächeln verging. »Ich habe dich immer geliebt.«
»Komm du zu mir nach Hause.«
»Nein.« Acacia trat einen Schritt zurück. »Nun haben wir beide gefragt und beide abgelehnt. Ich vermisse dich, mein Liebes. Ich werde dich immer vermissen, so wie ich dich immer lieben werde. Und jetzt folge ich deinem Vater.«
»Mutter – «
Acacia schüttelte den Kopf und ging zu ihrem Pferd zurück, wo sie aufstieg. Luna wollte ihr folgen, doch die Luidaeg streckte einen Arm aus und hielt sie zurück. »Nein«, sagte sie. »Du kannst ihr nicht nachgehen.«
»Aber – «
»Nein.« Acacia ritt davon und
Weitere Kostenlose Bücher