October Daye: Nachtmahr (German Edition)
»Michael!«
Der ganze Hofstaat war versammelt, es schien, als würde irgendeine Festlichkeit vorbereitet, in die ich nun hineinplatzte. Es war alles zu viel auf einmal. Ich stolperte vor Verblüffung. Zwei Reiter traten aus der Menge und packten mich rechts und links an den Armen. »Kämpf mit mir, du Schwein!«, schrie ich und trat wild um mich, um freizukommen. Sie lachten nur.
Blind Michael saß hoch auf seinem Thron. Ich hatte es gewusst: Jener winzige Teil von mir, der sich wünschte, ich hätte den Ritt zu Ende gebracht, wusste immer, wo er war. Für diesen verräterischen kleinen Zipfel meiner selbst war er noch immer mein Gott.
Er musste diesen Zipfel meines Herzens in meinen Augen aufleuchten gespürt haben, denn er lachte und sagte erfreut: »So, die verlorene Tochter ist also heimgekehrt. Ich wusste, dass sie das tut. Ich hatte genug Zeit, sie zu formen. Lasst sie zu mir kommen.«
Die beiden Reiter ließen meine Arme los und traten zurück ins Glied. Dann bildeten alle gemeinsam einen weiten Kreis um ihren Herrn. Sehr vorausschauend. Wenn ich verlor, standen sie bereit, um sich über die Leiche herzumachen, und wenn ich gewann, konnten sie mich leicht niedermachen. Pessimismus ist meist wenig dazu angetan, die Aussichten zu verbessern.
Ich funkelte sie finster an und spuckte Blut auf den Boden, als ich auf Blind Michael zuschritt. Er trug noch die Rüstung, die er für den Ritt angelegt hatte, doch die spiegelnde Oberfläche war ruiniert, verschwunden unter Schichten von Dreck und verschmiertem und getrocknetem Blut. Auch seine übernatürliche Gefasstheit war dahin. An ihre Stelle war zornige Gereiztheit getreten.
Mein Blick blieb nur kurz an ihm hängen. Dann wandte ich mich dem Stuhl neben ihm zu. Dort saß Acacia, die gelben Augen riesig und leer. Man hatte ihre Haare eng mit der Korblehne des Stuhls verflochten, sodass sie sich nicht rühren konnte.
»Was hast du mit ihr gemacht?«, fragte ich laut.
Blind Michael runzelte die Stirn und zog die Brauen über den eisweißen Augen zusammen. »Sprich nicht so mit mir.« Seine Worte hatten die Wucht von Kommandos. Ich spürte, wie sich an meinem linken Arm ein neuer Schnitt auftat und ein weiteres stilles Rinnsal aus Blut entstand. »Sprich niemals so mit mir.«
Es war schwer, mich zu bewegen, solange er mich so anstarrte, aber ich schaffte es, eine Hand zum Mund zu heben und frisches Blut von meinen Fingern zu lecken. Die Wucht seiner Worte und die Last seines Blicks ließen nach, bis sie nur noch ein etwas nerviges Summen im Hintergrund meines Bewusstseins waren. Schon immer war all meine Macht vom Blut gekommen. Nicht einmal er konnte mir viel anhaben, während ich es zu mir nahm.
»Ich rede mit dir, wie es mir passt«, sagte ich. »Und jetzt komm da runter und kämpf mit mir.«
»Warum?« Er kniff die Augen zusammen. Mein Sichtfeld spaltete sich auf und zeigte mir alle Richtungen gleichzeitig, als er mich zwang, durch die Augen seiner Jagdtruppe zu schauen. »Du bist mein. Warum sollte ich gegen etwas kämpfen, was mir gehört?«
»Ich gehöre dir nicht!«, schrie ich. Es gab einen kurzen, scharfen Schmerz, und meine Sicht wurde wieder normal. Ich konnte mich allerdings nicht darauf verlassen, dass das so blieb, er war mir zu nahe.
»Du bist geritten. Du bist mein.«
»Ich bin vor dem Ende ausgeschieden.«
»Das macht nichts, du gehörst mir trotzdem. Alles hier gehört mir.« Er drehte sich zur Seite und fuhr mit einer Hand über Acacias Wange, fast zärtlich. Da war einmal Liebe gewesen, bevor er sie verbogen und verstümmelt hatte. »Wo soll ich sie diesmal verunstalten? Als sie mich das letzte Mal betrogen hat, zeichnete ich ihr Gesicht. Was soll es diesmal sein? Sie leidet für dich. Du darfst bei ihrem Schmerz mitreden.«
»Lass sie gehen, Michael.«
Er wandte sich wieder mir zu und lächelte. »Warum sollte ich?«
»Tu es freiwillig, damit ich dich nicht zwingen muss.«
Er lachte tatsächlich los. »Oh, kleiner Wechselbalg, Amandines unreine Tochter. Was bringt dich nur zu der Annahme, du könntest mich zu irgendetwas nötigen? Siehst du, hättest du mein gütiges Angebot wahrgenommen und wärst meine liebliche Braut geworden, so hättest du vielleicht gewissen Einfluss haben können. Doch du hast das Angebot ausgeschlagen. Der Geleitschutz meiner Schwester wacht jetzt nicht mehr über dich. Sie kann dich nicht retten.«
»Dann rette ich mich selbst.« Ich sah ihn finster an und spuckte noch einen Mundvoll Blut aus. »Ich bin
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