October Daye: Nachtmahr (German Edition)
endete die Zeit, und alle Farben vergingen im Schwarz.
Und ich fiel.
Kapitel 30
D er Wald war voller Seufzer. Es wehte kein Lüftchen, und dennoch bogen sich die Zweige, rieben sich aneinander, wisperten von Schmerz und Blut und Verlust. Ich war wieder zurück in Acacias Wald, und das war mir ganz recht. Sie war das Einzige in Blind Michaels Landen, was ich mit Bedauern hinter mir lassen würde. Ich schaute mich um, versuchte mich zu orientieren. Als sich die Dunkelheit zu lichten begann, hatte ich schon wach im Wald gestanden. Der Blutpfad war bisher von allen drei Passagen die schnellste und schmerzloseste gewesen. Das lag vermutlich daran, dass er letztendlich die meisten Schmerzen bereitete.
Etwas war hier faul. Die Dunkelheit rings um die Bäume hatte zugenommen, und das Unterholz kümmerte welk. Der Wald war der einzige Ort in diesen Landen gewesen, der sich lebendig anfühlte, jetzt jedoch fühlte es sich an, als ob er starb. »Acacia?«, rief ich. Niemand antwortete.
Oh, Wurzel und Zweig. Sie hatte mir vor dem Ritt geholfen, und als der Ritt abgebrochen wurde, war sie dageblieben, um mit ihrer Tochter zu sprechen. Blind Michael musste das bemerkt haben. Dies waren seine Lande, und er war ohne Frage mächtiger als sie. Der Verlust der Kinder dürfte sein Prestige geschwächt haben. Er würde jemanden brauchen – egal wen – , um ein Exempel zu statuieren. Acacia war keine Unschuldige, aber sie war auch keine Schuldige, diesmal nicht.
Ich nahm das Schwert von meiner Schulter und wollte es aus der Scheide ziehen, um die Ebene nicht ohne eine Waffe in der Hand überqueren zu müssen. Meine Finger rutschten am Knauf ab, und ich schaute hinunter. Blut lief über meine rechte Hand. Es quoll aus einem hauchfeinen Schnitt, der sich völlig schmerzlos an meinem Handgelenk geöffnet hatte. Es machte keinerlei Anstalten zu gerinnen oder aufzuhören, es blutete einfach vor sich hin.
»Der Blutpfad«, sagte ich und verstand. Es würde noch mehr Schnitte geben, noch viel mehr, bis ich schließlich verblutete, wo ich gerade ging und stand. Das hatte ich zwar nicht kommen sehen, aber es war auch keine große Überraschung. Meine Zeit war begrenzt. Das wusste ich schon. Mir hatte nie eine Ewigkeit zur Verfügung gestanden – die Ewigkeit ist nichts für Wechselbälger – , und jetzt verrann die Zeit endgültig. Aber Blind Michael musste dennoch sterben.
Die verbleibende Zeit war kurz, die Nacht war lang, und er hatte sämtliche Vorteile auf seiner Seite. Alles sprach für ihn. Alles, bis auf mich, und das Blut. Blut hatte mir den Weg gewiesen, als es mit Wachs vermischt und zu einer Kerze gezogen war. Warum sollte es mir nicht helfen, wenn es rein war? »Wie viele Meilen nach Babylon?«, flüsterte ich und strich etwas Blut auf meine Lippen, dann eilte ich zum Waldrand, schlüpfte zwischen den Bäumen hindurch und rannte in die nebelverschleierte Nacht hinaus. Das Blut kannte den Weg, und ich vertraute dem Blut und hinterfragte meine Schritte nicht, als ich in die graue Weite vorstieß. Ich war noch nicht weit gelaufen, da sah ich vor mir den glühenden Schein der Feuer auf dem Platz in Blind Michaels Dorf. Die Reiter sammelten sich erneut. Gut. Das hieß, dass er da war und ich ihn finden konnte.
Wenigstens tat die Landschaft nichts, um mich ernstlich zu behindern. Ein paar Mal stolperte ich über kleine Felsen, aber damit musste ich rechnen: Schließlich rannte ich, ohne den Untergrund richtig zu sehen. Wenn ich nicht gelegentlich gestolpert wäre, hätte ich angenommen, dass ich direkt in eine Falle lief.
Ich muss wirklich lernen, gründlicher nachzudenken.
Ich hörte das Geschrei der Reiter schon, als ich erst halb über die Ebene war. Sie klangen stocksauer. Kein Wunder. Von ihrem Standpunkt betrachtet hatten die Luidaeg und Co. unbefugt ihre große Festtagsparade ruiniert. Natürlich basierte ihre Festtagsparade auf Kidnapping und Gehirnwäsche, aber was ist schon ein bisschen Folter unter Freunden?
Jetzt jedenfalls gab es nichts mehr, was mich ablenkte, und niemanden, den ich retten oder schützen musste. Das war eine Entlastung. Manchmal tut es gut, aufs Wesentliche zurückgeworfen zu sein. Ich würde Blind Michael umbringen oder bei dem Versuch umkommen. Töten oder getötet werden. Leben oder sterben.
Auf meiner Stirn hatte sich ein Schnitt geöffnet, und Blut lief mir in die Augen, als ich durchs Dorf rannte. Niemand hielt mich auf, nicht mal, als ich auf den Platz stürmte und brüllte:
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