October Daye: Nachtmahr (German Edition)
kämpfen, was man nicht sieht, und Blind Michael konnte mich ja nicht wirklich sehen. Er hatte hundert geborgte Blickwinkel zur Verfügung, aber der wichtigste von allem fehlte ihm: sein eigener. Er schlug wild um sich, als ich herankam, und ich machte mir gar nicht erst die Mühe, seine Hiebe zu blocken. Das Schwert traf meinen linken Oberarm und schlug eine lange, oberflächliche Fleischwunde von meiner Schulter bis zum Ellbogen. Er hatte mich nur gestreift: Es tat weh, aber nicht sehr, und es beeinträchtigte mich kaum. Gut. Meine eigene Strategie war darauf angewiesen, dass er glaubte, er könnte gewinnen, und sei es nur für einen Augenblick. Er nahm an, die Oberhand zu haben, ich sah es an der Art, wie er die Klinge senkte, statt sich für den Gegenschlag zu wappnen.
Meine Schulter traf ihn mit Wucht gegen die Brust und brachte ihn zu Fall. Damit hatte er nicht gerechnet. Idiot. Ich hatte nichts als ein Messer, wohingegen er über Rüstung und Schwert verfügte – also wo lag der Vorteil, wenn ich ihn frontal angriff? Ihn zu entwaffnen war wesentlich aussichtsreicher.
Er schlug schwer zu Boden, und Sylvesters Schwert rutschte ihm aus der Hand. Ich landete auf seiner Brust, stemmte die Knie gegen seine Oberarme und drückte ihm die Klinge meines Messers gegen die Kehle. »Was braucht man, um einen Gott zu töten?«, fragte ich kalt.
»Du kannst mir nichts anhaben«, sagte er.
»Zu dumm, dass du das selber nicht glaubst.« Ich stieß auf ihn herab, presste die Schneide fester gegen seine Haut. Mein Blut tropfte überallhin und machte es schwer, zu erkennen, ob ich ihn wirklich verletzte oder nicht. »Wie lange hast du nicht mehr selbst gekämpft, Michael? Wie lange schon hast du dich feige hinter Kindern versteckt?«
»Ich – «
»Wie lange ?«, brüllte ich. Er hörte auf sich zu wehren und schloss die Augen, und ich blickte auf und sah, wie die ganze Jagdtruppe mich mit einhelligem Entsetzen anstarrte. Jetzt glaubten sie endlich, dass ich es tun würde. Dass ich ihren Herrn töten würde …
Und ich konnte es nicht. Nichts, was ich ihm antun konnte, würde genügend schmerzen, nichts. Er musste leiden, eine Ewigkeit lang. Ich schauderte und ließ den Kopf hängen, versuchte mich so weit zu sammeln, dass ich es schaffte, ihm die Kehle aufzuschlitzen.
Da legte sich Acacias Hand auf meine Schulter, und ein Messer landete neben mir im Staub. »Töte ihn oder lass ihn gehen, Tochter der Amandine, aber quäle ihn nicht«, sagte sie. »Triff deine Wahl. Dir bleibt nicht viel Zeit.«
Ich sah auf. »Acacia – «
Sie schaute auf mich herunter, abgerissene Haarsträhnen umrankten ihr Gesicht wie kurze Locken. Als ich Blind Michael ablenkte, musste das seinen Bann gebrochen und ihr ermöglicht haben, sich loszureißen. »Nein. Du lässt viel zu oft Andere Entscheidungen für dich treffen. Töte ihn oder lass ihn am Leben, aber tu es jetzt. Keine Spielchen mehr.«
»Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
»Du weißt es immer. Du hörst nur nicht auf dich.« Sie schüttelte den Kopf, wandte sich ab und ging davon. Die Reiter traten beiseite, um sie durchzulassen. Noch immer schwiegen sie, starrten mich nur an.
Entscheidungen. Oh, bei Oberons Blut, Entscheidungen.
Ich nahm die Kerze zwischen die Zähne und hielt mein Messer fest an Blind Michaels Kehle gedrückt. Die Flamme leckte an meiner Wange und erfüllte die Luft um mich herum mit dem scharfen Geruch versengten Blutes, als ich die Hand ausstreckte und Acacias Klinge ergriff. Um ein Haar ließ ich sie fallen, als das Metall meine Hand berührte. Eisen – sie war aus Eisen. Natürlich, das musste sie ja sein, oder hatte ich ernstlich geglaubt, ich könnte einen Erstgeborenen allein mit Silber töten? Die Möglichkeit hatte nie bestanden. Nicht wirklich.
Mein Vater war ein Mensch gewesen, daher kann ich die Berührung von Eisen ertragen, wenn auch nur mit Mühe. Ich zwang meine Hand, das Heft zu umschließen. Dann sah ich durch den Blutschleier hindurch, der meine Augen bedeckte, Blind Michael an. Ich suchte nach meinem Hass, doch ich konnte ihn nicht finden. Ich fand Bedauern und Zorn, aber keinen Hass. Er war wahnsinnig. Er fügte anderen Leid zu, weil er es nicht besser wusste, und er hatte es schon sehr lange nicht besser gewusst. Sprach ihn das frei von dem, was er getan hatte? Nein. Gab es mir das Recht, ihn zu quälen?
Nein. Auf keinen Fall.
»Es tut mir leid«, sagte ich. »Ich kann dir nicht vergeben.« Ich hob die Hände, legte beide Klingen
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