October Daye: Nachtmahr (German Edition)
nicht ihretwegen hier.«
»Nein, du kamst um deiner selbst willen. Dummer kleiner Held.« Er griff zwischen die Kissen seines Throns und zog mein Messer hervor. Er zeigte es mir, dann presste er es unbeirrt lächelnd gegen Acacias unvernarbte Wange. »Es ist geradezu ein Wunder, dass überhaupt welche von meines Vaters Kindern – und Enkeln – überlebt haben.«
»Gib mir mein Messer zurück und lass sie gehen.«
»Warum sollte ich?« Er machte sich nicht die Mühe, mich anzusehen. »Knie nieder.«
Ich war auf den Knien, noch ehe ich mitbekam, was er gesagt hatte. Beim Aufprall auf dem Boden öffneten sich weitere klaffende Schnitte an meinen Schienbeinen und Knien. Herrlich. Wir veranstalteten hier ein Geplänkel, während ich verblutete. »Du kriegst mich nicht klein«, knirschte ich und zwang mich wieder hoch. Es war nicht leicht, meine Beine wollten dauernd unter mir nachgeben.
»Schöne Worte, aber du hast nicht die Kraft. Geh und stirb woanders.«
»Zwing mich doch«, knurrte ich, biss die Zähne zusammen und schaffte es, aufrecht stehen zu bleiben. Ständig lief mir Blut in die Augen. Ich wischte es mit einer Hand weg, aber plötzlich hielt ich inne und starrte ungläubig auf den Boden.
Da, nahe am Fuß seines Throns, lag meine Kerze. Unter all dem frischeren Blut hatte ich sie nicht zu mir singen hören, doch als ich sie sah, wusste ich sofort, dass es meine war. Auf eine verdrehte, kranke Art war das auch völlig plausibel: Ganz offensichtlich wurde hier nicht viel sauber gemacht, und als ich sie weggeworfen hatte, wurde sie einfach zu einem Teil des herumliegenden Mülls. Ich hatte aufgegeben und ihren Schutz verschmäht – doch das war damals, und jetzt war jetzt. Wenn ich an sie herankam, konnte ich vielleicht immer noch mit der Kerze Licht zurückkommen.
»Ich werde nicht sterben«, sagte ich.
»Nicht?« Er grinste höhnisch. »Zu schade. Wenn du nicht stirbst, ist es reine Zeitverschwendung, dich zu töten.« Er wandte sich wieder Acacia zu und fuhr mit meinem Messer über ihr Gesicht. Ihre Augen blieben glasig und blicklos, auch als Blut über ihre Wange lief.
Blut rann über meine Hände und an der Klinge von Sylvesters Schwert entlang, als ich es hob. Das Metall blinkte purpurn und golden im Feuerschein auf. »Lass sie in Ruhe und kämpf mit mir!«, rief ich. »Sei ein Mann, du Dreckskerl, und kein Gott! Oder bist du dafür zu feig e?« Das letzte Wort dröhnte über den Platz wie ein Schlachtruf. Es war eine Herausforderung, die er nach dem gescheiterten Ritt nicht einfach übergehen konnte.
Blind Michael ließ mein Messer in Acacias Schoß fallen und stand auf, die blinden Augen leicht zusammengekniffen. »Glaubst du im Ernst, du könntest mich herausfordern?«, polterte er. »Du, die ihr Erbe mit Füßen tritt, um als ein Nichts zu leben? Du bist eine Närrin, October, Tochter der Amandine. Hast du deinen Gott vergessen?«
»Ich bin eigentlich Atheistin«, sagte ich.
»Ich verstehe.« Er lächelte tückisch und streckte mir eine leere Hand entgegen. Ich glaubte die Reiter um uns herum in ein Triumphgeheul ausbrechen zu hören, dann waren sie fort, und ihre Stimmen verklangen, als die Nebel aufwallten und die Umgebung ausblendeten. »Dabei ist eine Kirche doch so ein stiller, heimeliger Ort. Da gibt es keinen Schmerz, kleiner Wechselbalg. Keinen Tod. Da braucht man kein Schwert.«
Das Schwert verschwand aus meinen Händen, verschluckt von den Nebeln. Ich krampfte die Finger zusammen, versuchte es zu packen, doch ich griff nur Luft. Wütend schaute ich hoch – und begegnete Blind Michaels leerem Blick. Er lächelte unverwandt. Ich konnte nicht wegsehen.
»Kein Schmerz«, flüsterte er. »Kein Tod, keine Notwendigkeit zu kämpfen. Komm zurück, kleiner Wechselbalg. Komm zu mir zurück und bleib für immer bei mir.«
Das Weiß seiner Augen wuchs und breitete sich aus, wie bei seiner Schwester, und ich ertrank darin. »Ich bin nicht dein«, sagte ich, zwang die Worte einzeln aus mir heraus. Es wurde immer schwerer, mich zu bewegen oder zu denken, und etwas im Hintergrund meines Bewusstseins jubelte dauernd und wollte sich am liebsten in seine Arme stürzen.
Wie viel von mir gehörte ihm? Wie viel von mir war bereit, den Rest zu verraten? Ich biss mir heftig auf die Innenseite meiner Wange, wollte das Blut nutzen, von dem ich wusste, dass es da war, doch ich schmeckte nichts davon. Sein Zauber war jetzt zu stark, und er würde sich kein zweites Mal auf dieselbe Art überrumpeln
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