October Daye: Nachtmahr (German Edition)
seine Stimme ungewöhnlich sanft. »Ich wollte dich nicht vor den Kopf stoßen.«
»Was?« Ich blickte ihn an.
»Ich sagte, ich wollte dich nicht vor den Kopf stoßen. Mir war nicht klar, dass meine Abwesenheit dich stören könnte.« Sein Lächeln weitete sich leicht. »Es sah bisher immer so aus, als tätest du dein Bestes, um mich loszuwerden.«
»Tja, na ja.« Ich blieb beim Wagen stehen und nahm ihm das Kleiderbündel aus den Händen. »Ich schätze, ich hab wohl nicht damit gerechnet, dass es so plötzlich passiert. Hab ich dich irgendwie vergrault?«
»Mich vergrault? Nein. Ganz und gar nicht. Ich war … « Er unterbrach sich und seufzte. »Ich war auf der Suche nach jemandem. Es gibt da ein paar Fragen, die mir großes Kopfzerbrechen bereiten, und ich würde gern einige Antworten finden.«
»Irgendwas, wobei ich helfen kann?«
Die Frage war eher beiläufig gestellt, seine Antwort hingegen alles andere als das. Er verharrte so reglos wie eine Katze, die sich an eine Maus anschleicht, studierte mein Gesicht, suchte es mit schnellen Blicken ab, als müsse er etwas darin erforschen. Schließlich sagte er, und es klang fast verwundert: »Nein. Nein, ich glaube nicht.« Er sah eigentümlich erleichtert aus. »Verzeih mir mein Fernbleiben. Wie ich sehe, warst du verloren ohne mich.«
Ich sah ihn verwundert an, grub meine Schlüssel aus der Tasche meiner Jeans und überprüfte die Rückbank auf Eindringlinge, ehe ich die Autotür aufschloss. »Du bist schon ein seltsamer Kerl, Tybalt«, sagte ich. »Aber das ist ja nichts Neues. Soll ich dich irgendwo absetzen?«
Er machte ein nachdenkliches Gesicht. »Was hat Lily gemeint? Jemand, der zu deiner Linie gehört wie die Mistel zur Eiche?«
Keine halben Sachen. Wenn er mir die Suche nach den am Katzenhof vermissten Kindern anvertraute, konnte ich ihm auch die Begleitumstände der Situation anvertrauen. Ich straffte die Schultern, sah ihm in die Augen und sagte: »Mein Holing ist heute Morgen aufgetaucht.«
»Ah«, sagte er leise. »Ich hätte wissen müssen, dass so etwas im Busch ist.« Ehe ich reagieren konnte, trat er vor und küsste mich sanft auf die Stirn. »Ich muss an meinen Hof zurück und die Eltern der Vermissten wissen lassen, dass du zugestimmt hast. Ich komme später zu dir.«
Erstaunt starrte ich ihn an. »Was … ?«
»Freie Wege, Toby. Finde unsere Kinder.« Er zögerte, als wollte er noch etwas sagen, tat es aber nicht, sondern drehte sich um und ging zum Rand des Parkplatzes.
»Was … ?«, wiederholte ich verwirrt, die Schlüssel baumelten in meiner Hand.
Er sah über die Schulter zurück und lächelte, fast schüchtern. Dann trat er in den Schatten und war weg.
»Diese Geschichte wird langsam amtlich schräg«, sagte ich, mehr um meine eigene Stimme zu hören als aus irgendeinem vernünftigen Grund. Vermisste Kinder, ein Holing vor meiner Tür, Lilys verrücktes Benehmen, und nun gab sich auch noch Tybalt alle Mühe, dem Begriff »seltsamer Auftritt« neue Bedeutung zu verleihen. Der Tag wurde einfach nicht besser. Ich stieg ins Auto und startete den Motor.
Ich brauchte Kaffee, und zwar sofort.
Kapitel 6
I ch brauchte eine halbe Stunde einschließlich dem Abstecher zum McDonald’s Drive-in, bevor ich zu Hause ankam. Der Großteil eines XL -Bechers Kaffee gab sich alle Mühe, meinen Magen zu beruhigen. Er versagte. Das Versagen wurde noch spürbarer, als ich mich meiner Wohnung näherte und einen Blick auf die Verandastufen warf. Dort hockte Quentin, die Arme um die Beine geschlungen und das Kinn auf den Knien, und präsentierte sich aller Welt wie ein großes getretenes Hündchen.
Immerhin hatte er die Geistesgegenwart besessen, seine menschliche Tarnung anzulegen, sodass die Spitzen seiner Ohren gerundet und seine Schönheit glaubwürdig abgeschwächt war. Daoine Sidhe sehen umwerfend aus, aber es ist keine menschliche Schönheit. Mit seiner Tarnung war er der Traum aller weiblichen Teenager, ohne hingegen hätte er Ausschreitungen verursacht. Er trug Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift ›Du bist bloß neidisch, weil die Stimmen zu mir sprechen‹. Es sah nicht so aus, als wären seine silberblonden Haare in den letzten Tagen gekämmt worden, und einer seiner Turnschuhe war nicht zugebunden.
Das einzige Mal, dass ich ihn so derangiert gesehen hatte, war direkt nachdem er angeschossen wurde. Etwas stimmte hier nicht.
Er rappelte sich auf, als er mich sah, und stolperte beinahe über seine Schnürsenkel.
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