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October Daye: Winterfluch (German Edition)

October Daye: Winterfluch (German Edition)

Titel: October Daye: Winterfluch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seanan McGuire
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Dunkelheit über einen glitschigen Strand ist allerdings nicht unbedingt das, was man auf den Besuch eines Mord-Tatorts folgen lassen möchte, es sei denn, man ist masochistisch veranlagt, was auf mich nicht zutrifft. Ein glücklicher Umstand war, dass gerade Ebbe herrschte, ein weniger glücklicher, dass der Mond kaum Licht spendete. Und selbst die Nachtsicht von Wechselbälgern ist keine Hilfe, wenn Nebel aufzieht.
    Turnschuhe sind wirklich nicht für nassen Sand und rutschigen Stein gedacht, dennoch gelang es mir irgendwie, nicht in die Bucht von San Francisco zu stürzen, bevor ich die Höhle erreichte, die den Eingang zum Hof der Königin darstellt. Sie war schmal, feucht und dunkel und lag fast gänzlich hinter einem scheinbar zufällig entstandenen Steinhaufen verborgen. Insgesamt vermittelte das ganze Gebilde den Eindruck, es könne jeden Augenblick einstürzen, was natürlich bedeutete, dass es sich um den einzigen Eingang handelte.
    Ich stieg von den Steinen und zuckte zusammen, als das Meerwasser sofort meine Socken durchweichte. Die Nacht wurde immer besser. Und nun hatte ich auch noch einer mächtigen Frau, die mich nicht mochte, schlechte Neuigkeiten zu überbringen, ein schreckliches Verbrechen aufzuklären und obendrein nasse Socken. Murrend wagte ich mich in die Dunkelheit.
    Das Wasser in der Höhle wurde tiefer, je weiter ich vordrang. Bald reichte es mir halb die Waden hinauf und durchtränkte meine Jeans bis zu den Oberschenkeln. Zitternd tastete ich mich mit einer Hand an der feuchten Wand entlang. Ich hoffe, eines Tages entdeckt Ihre Majestät auch mal die Vorzüge von Zentralheizungen und Abflussanlagen. Bis dahin muss man für einen Besuch bei ihr durch die Dunkelheit stolpern und hoffen, von nichts Garstigem aufgelauert zu werden, das plötzlich hervorspringt und »Überraschung!« ruft.
    Etwa sechs Meter vom Eingang entfernt begann der Stein in fahlem Weiß zu schimmern. Ich ging weiter und ignorierte das Gefühl von Phantomhänden, die an meinen Kleidern und Haaren zupften. Dann wurde der Untergrund ganz plötzlich eben. Zugleich ersetzte polierter Marmor den rauen Stein. Ich blieb in Bewegung. Meine nassen Schuhe klatschten bei jedem Schritt auf den Marmorboden. Nach weiteren drei Metern öffneten sich die Wände, und ich lief plötzlich durch einen riesigen Ballsaal mit eisweißem Marmorboden und kannelierten Säulen, die eine hohe Decke stützten. Höflinge drängten sich wie exotische Vögel zusammen, deuteten mit den Fingern auf mich und tuschelten hinter vorgehaltenen Händen, als sie mein ungepflegtes Erscheinungsbild bemerkten. Ich stapfte weiter.
    Das Ärgerliche an der Königin der Nebel ist: Sie steht derart weit über dem Protokoll, dass sie es nicht für notwendig erachtet, danach zu leben, außer wenn es ihr in den Kram passt, obwohl sie es allen anderen um sich herum sehr wohl aufzwingt. Verstieße ich nur gegen die geringste Regel, könnte ich in Schwierigkeiten geraten, aus denen ich nie wieder herauskäme. Sie hingegen konnte tun, was immer sie wollte, und ich könnte nur dazu knicksen. Das bedeutete, ich musste mich geradewegs in den Thronsaal begeben, denn die Anstandsregeln besagen, dass mit einer förmlichen Vorstellung zu beginnen ist. Wenn ich Glück hatte, würde sie dort sein.
    Allerdings habe ich selten Glück. In der Luft trat ein Schimmern auf, und der Geschmack von gefrorenem Salz bestürmte meine Zunge. Das Geräusch nasser, auf den Boden klatschender Sohlen verstummte, als meine Turnschuhe durch niedrige Stöckelschuhe ersetzt wurden, die zu dem bodenlangen blauen Seidenkleid passten, das die Stelle meiner Kleider eingenommen hatte. Ich kannte nur eine Frau, die unhöflich genug war, dies ohne mein Einverständnis zu tun, und rein formell war es nicht einmal unhöflich. Mit dem Rang gehen auch Privilegien einher.
    Ich vergrub die Hände im Rock, sank in einen tiefen Knicks und senkte den Kopf. »Majestät, es ist mir eine Ehre.«
    »October.« Die Stimme ertönte so hell und luftig wie ein halb vergessener Traum. Überraschung schwang nicht darin mit; vielmehr klang sie leicht erfreut, als käme ich jeden Tag so vorbeigeschlendert. Ich vermute, ein wenig Überdruss ist ganz gut, wenn man einer Ewigkeit in der Politik entgegenblickt. »Wie außerordentlich reizend es ist, dich zu sehen.«
    Der Stimme nach zu urteilen befand sie sich irgendwo links von mir. Gut. Wenn es sich vermeiden ließe, sie anzusehen, würde es vielleicht nicht allzu schlimm werden. »Die

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