October Daye: Winterfluch (German Edition)
jung waren, als die Rose noch ungepflückt auf dem Baum wuchs, als unsere Lande noch neu und grün waren und wir sorglos tanzten, damals waren wir unsterblich. Damals lebten wir ewig.« Ich senkte den Blick, da ich den Ausdruck im Gesicht der Königin nicht sehen wollte. Es spielte keine Rolle: In der plötzlichen Stille des Hofes konnte ich hören, was ich nicht sehen wollte. Für die Todesgesänge gibt es nur einen Grund.
Es war zu spät, um aufzuhören. Dafür war es bereits zu spät gewesen, als der erste Schuss abgefeuert wurde. Ich fuhr fort. »Wir verließen diese Lande für die Welt, in der die Zeit weilt und tanzt, auf dass wir die Wanderung der Sonne und das Wachstum der Welt sehen konnten. Hier können wir sterben und fallen, und hier hat Fürstin Evening Winterrose, Gräfin des Lehens von Goldengrün, ihren Tanz beendet.«
Ich ließ den Kopf gesenkt, bis die Stille unerträglich wurde. Die Königin verharrte so reglos, dass man sie auch für eine Statue halten konnte, für etwas, das aus Nebel und Meeresschaum geschaffen worden war. Ich konnte ihr keinen Vorwurf daraus machen. Wenn ich vorsichtig bin, werde ich noch lange leben, doch das höchste der Gefühle sind einige Jahrhunderte. Für menschliche Begriffe ist das viel. Im Vergleich zu dem, was Reinblütler erreichen, ist es dagegen nichts. Daran erinnert zu werden, dass sie sterben können, ist bisweilen mehr, als sie zu verkraften vermögen.
»Majestä t … « Sie hob die Hand. Ihre fahlen Finger zitterten, als sie meinen Worten Einhalt gebot. Ich verstummte und wartete, bis sie sich gesammelt hatte, bevor ich fortfuhr. »Majestät, sie hat mich damit beauftragt, den Grund für ihren Tod herauszufinden. Darf ich frage n … «
»Nein.«
Überrascht hielt ich inne. Ich hatte mit vielem gerechnet, allerdings nicht damit, dass sie mich abweisen würde. »Majestät?«
»Nein, October Daye, Tochter der Amandine.« Mit angespannten Kiefern hob die Königin den Kopf. »Ich werde dir nicht helfen, und wir werden auch nicht weiter darüber sprechen. Was geschehen ist, ist geschehen. Wenn der Mond voll ist, tanzen wir für sie, und bis zu jenem Tag wird niemand hier den Namen Winterrose aussprechen. Auch nach jenem Tag wird es niemand mehr tun. Ich werde dir nicht helfe n … und du wirst mich nicht weiter darum bitten.«
»Abe r … «
»Nein. Amandines Tochter hin, Amandines Tochter her, ich werde dir nicht geben, was du von mir verlangen würdest. Ich würde es dir verweigern und eher verflucht sein wollen, als so etwas zu tun.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe im Verlauf der Jahre genug für dich getan. Jetzt werde ich dir nicht helfen.«
Nicht einmal geschlagen zu werden hätte mich mehr überrascht. »Aber Herrin, Evening wurde mit Eisen ermorde t … «
»Sag mir nicht, wie sie gestorben ist!« Ich wankte auf den Fersen zurück und schlug mir die Hände in dem vergeblichen Versuch auf die Ohren, die Stimme der Königin auszusperren. Vielleicht hat die Zeit das Blut ihrer Banshee- und Sirenen-Ahninnen so sehr verwässert, dass ihr Schrei nicht mehr tödlich ist, vielleicht liege ich aber auch falsch. Von Glücksspiel habe ich noch nie viel gehalten. »Sag es mir nicht!«
Der Hof tuschelte wieder, doch diesmal drehte sich das Geflüster um die Königin. Sie zitterte im Stehen, ihre Augen wirkten geradezu wahnsinnig vor Wut. Hätte ihr Zorn etwas anderem gegolten, er wäre beeindruckend gewesen, aber er richtete sich gegen mich, was ihn umso grauenerregender wirken ließ. Die Menschheit besitzt Instinkte, die in der Gegenwart von Fae ansprechen und dafür sorgen, dass sie sich brav und demütig verhalten. Wechselbälger bekommen nicht die volle Wucht ab, aber doch einen Teil davon, bis uns manchmal unsere eigenen Eltern Angst einjagen. Ich wich mehrere Schritte zurück und sank hastig in einen Knicks. »Majestät, wenn Ihr fertig seid, werde ic h … «
»Verschwinde!« Ihr Kopf schnellte von Seite zu Seite, ihre Stimme aber schwoll zu einem übernatürlichen Geheul an. » Sofort! «
Einer weiteren Aufforderung bedurfte es nicht. Ich drehte mich herum, rannte zur entfernten Mauer und hindurch, zurück in die Dunkelheit der Höhle auf der anderen Seite. Meine Schuhe waren zum Tanzen gedacht, nicht aber zum Laufen über Stein, der vor Meerwasser rutschig war. Nachdem ich das dritte Mal beinahe gestürzt wäre, zog ich sie aus und trug sie mit der Hand, die nicht damit beschäftigt war, meinen Rock so gut wie möglich aus dem Wasser zu
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