October Daye: Winterfluch (German Edition)
über dem Schlüsselbein. Ich schrie auf, taumelte und zwang mich weiterzulaufen. Es dauerte eine Sekunde, bis sich der Schmerz zu einem steten Pochen legte, das laut und deutlich davon kündete, dass ich noch größere Probleme als einen bezahlten Verbrecher hatte, der mitten auf einer Straße in San Francisco auf mich schoss.
Die Kugel bestand aus Eisen. Ich spürte das Brennen, das ihr Eindringen verursacht hatte, und ich konzentrierte mich darauf, um meine Beine zu zwingen, sich trotzdem weiter zu bewegen. Ein Teil von mir wollte sich den Schmerzen ergeben und zusammenbrechen, aber dieser Teil müsste nun mit seinem Elend zurechtkommen, denn ich würde nie und nimmer anhalten, um mich von einem Wahnsinnigen mit Eisen abschlachten zu lassen. Einen schlichten Tod könnte ich vielleicht noch verkraften. Aber einen Tod durch Eise n … Nichts schmerzt mehr als eine durch Eisen verursachte Wunde. Ich hatte Evenings Tod nacherlebt. Auf die Erfahrung, diese Schmerzen am eigenen Leib zu spüren, konnte ich getrost verzichten.
Die Straße präsentierte sich beinahe menschenlee r – typisch für mein Glück. Ausnahmsweise wünschte ich mir Leute, und es war kaum eine Seele in Sicht. Blut durchtränkte mein Hemd an der Vorderseite. Ich fühlte, wie ich langsamer wurde, als sich das Eisen tiefer und tiefer in meinen Körper vorarbeitete. Ein Rennen zwischen Blutverlust und Eisenvergiftung würde darüber entscheiden, was von beiden mich schneller auszuschalten vermochte. Wenn ich nicht bald eine Möglichkeit fände, zumindest die Blutung zu stoppen, konnte ich mich aus meinem eigenen Kriminalstück schreiben, bevor es richtig begann: Abgang October, Bühne links. Der Schütze brauchte mir nur zu folgen und abzuwarten.
Ich rannte, bis es sich anfühlte, als würde mich das Laufen umbringen, die Augen halb geschlossen, eine Hand auf die offene Wunde an meiner Schulter gepresst.
Manchmal ist Timing einfach alles. Halb rennend, halb stolpernd gelangte ich in dem Augenblick zu einer Bushaltestelle, als der Bus ankam. Ich ergriff die Haltestange und hievte mich an Bord, ohne die Schritte zu verlangsamen. Der Mistkerl mit der Pistole befand sich so weit hinter mir, dass er keinen gezielten Schuss anbringen konnte, und die Chancen, dass er den Bus erwischen könnte, bevor er abfuhr, waren gleich null. Die Zeit und die Busse San Franciscos warten auf niemanden.
Der Fahrer starrte mich an, als ich mit der linken Hand in der Hosentasche nach Kleingeld kramte. Ich bemühte mich so gut es ging, ihn zu ignorieren, und konzentrierte mich stattdessen darauf, meine Finger zu zwingen, meinen Befehlen zu gehorchen. Noch reagierten sie, doch das würde sich ändern; das Eisen bahnte sich einen Weg noch tiefer in meine Schulter hinein, und mein gesamter Arm wurde allmählich taub. Ich starrte zurück. Mir war durchaus bewusst, wie ich aussehen musste; Blut hatte meinen Pullover durchtränkt und klebte mir das Haar an die Schultern. Trug ich meine Tarnung denn überhaupt noch? Ich wusste es nicht, aber nach der Eisenkugel hätte ich keineswegs darauf gewettet. Eisen tötet Magie.
»Gibt es ein Problem, Ma’am?«, fragte der Fahrer.
Ich warf meine Münzen in die Fahrgeldkassette. »Schauspielschülerin«, gab ich so gewandt wie möglich zurück. »Haben uns bei den Proben etwas zu sehr reingesteigert.«
Ich konnte ihm am Gesicht ansehen, dass er mir nicht glaubte. Ebenso las ich in seinen Zügen, dass er es gar nicht wirklich wissen wollte. Er nickte nur knapp und schloss die Türen. Nur Sekunden, bevor der Bus schaukelnd und mit quietschenden Bremsen vom Randstein anfuhr, gelang es mir, eine Haltestange zu ergreifen und mich auf den nächsten freien Platz sinken zu lassen, bevor ich hätte fallen müssen. Ich bemühte mich, die Rückenlehne nicht zu berühren. Es ist unhöflich, die Sitze mit Blut zu besudeln. Nach etwa einem halben Block legte sich das Rucken des Busses. Die Fahrbewegung fing an, meine Nerven zu beruhigen, und lud mich zu einem angenehmen, ausgedehnten Nickerchen ein. »Du hast es dir verdient«, schien die Bewegung zu sagen. »Du bist entkommen. Jetzt schließ die Augen und schlaf.«
Trotz meiner Erschöpfung war mir klar, dass dies keine gute Idee war. Ein Nickerchen zu halten, wenn man blutet wie ein abgestochenes Schwei n – was die wenigen entsetzten Fahrgäste höflich ignorierte n – , stellt eine gute Möglichkeit dar, tot aufzuwachen. Ich stützte die Ellbogen auf die Knie und presste die rechte Hand fester
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