October Daye: Winterfluch (German Edition)
verkniffenen Augen den Inhalt ihrer Handfläche begutachtete und meinen überhasteten Trugbann zu durchschauen schien.
Münzen , dachte ich, so fest ich konnte. Du siehst Münzen. Den genauen Betrag. Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich, bevor es sich schließlich in einem sonnigen Lächeln auflöste. Sie ließ die Pilze in die Registrierkasse fallen.
»Willkommen im Teegarten! Einen wunderschönen Tag«, sagte sie und strahlte dabei diese eigenartige Aufrichtigkeit aus, die Torhütern jeder Art gemein zu sein scheint. Ich zwang mich zu einem Lächeln, ehe ich mich halb gehend, halb stolpernd weiterschleppte. Es war ein großartiger Tag für Kleinkriminalität gewese n – mit der Frau am Eingang und dem Mautkassierer würden am Ende des Tages mindestens zwei Leute zu wenig in der Kasse haben. Natürlich war ich für meine Tricks mit einer Eisenkugelwunde belohnt worden. Wer sagt eigentlich, dass es so etwas wie Karma nicht gibt?
Die Wege, die durch den Japanischen Teegarten verlaufen, bestehen aus schmalen, verwitterten Brettern. Bäume und Blumenbeete umgeben sie. Gelegentlich weichen diese Steingärten oder seichten Tümpeln. Brücken sprenkeln die Landschaft. Manche wölben sich in Winkeln, die tatsächlich Stufen notwendig machen. Es bedarf eines ziemlich guten Gleichgewichtssinns, um es ohne zu stürzen durch den Teegarten zu schaffen, auch wenn man die Brücken meidet. Im Augenblick war mein Gleichgewichtsgefühl eher knapp bemessen. Die Wege waren durch Wasser und Verfall rutschig, und der mangelnde Halt brachte mich ein halbes Dutzend Mal beinah zu Fall, bevor es mir endlich gelang, außer Sichtweite des Eingangstors zu geraten.
Am Fuß der Mondbrücke gab ich es auf und setzte mich in ein Farnbeet. Durch die Bewegung wurde mir noch schwindliger, und die Welt verwandelte sich in einen farbenprächtigen Tanz aus Wasser, Blut und Schatten. Schaudernd kippte ich vornüber und fing mich mit dem gesunden Arm wieder ab, bevor ich mit dem Gesicht voraus im Wasser landen konnte. Mein Spiegelbild waberte vor mir und vermittelte mir einen klaren Eindruck der Lage. Meine Trugbanne hatten sich völlig aufgelös t – jeder Tourist, der den Weg entlangkäme, würde etwas erblicken, womit er nicht gerechnet hätte. Zudem verkrustete Blut meine Lippen und mein Haar. Mein Pullover war fast bis zur Hüfte hinab durchtränkt.
Ich schaute in meine Augen und wusste, ich würde sterben.
Einer der Koi tauchte auf, starrte mich an und zerbrach mein Spiegelbild in unzählige gekräuselte Wellen. Ich blickte auf das Tier hinab und lächelte halbherzig, als ich die taube linke Hand ausstreckte und es am Kopf streichelte. Es scheute nicht vor der Geste zurück. »He, erinnerst du dich an mich?«, flüsterte ich. »Hab ich dir gefehlt? Ich glaub e … ich glaube, diesmal bleibe ic h … « Der Fisch sank wieder unter die Oberfläche und ließ meine Finger im Wasser baumelnd zurück. Blassrote Ringe strahlten von der Stelle aus, an der sie es berührten.
Ich spürte gar nicht, wie mein Gesicht in den Teich platschte. Alles war dunkel, und es war eine herrliche Dunkelheit, in der die Schmerzen endgültig und vollkommen verpufften. Es war vorbei, mit allem, mit dem Flüchten, mit dem Kämpfen, mit den Qualen. Nach allem, was ich durchgemacht hatte, war es endlich vorbei. Und diesmal würde mich das Wasser nach Hause tragen.
Kapitel 15
T oby, sei nicht tot; sei nicht tot.« Es klang fast wie Tybalts Stimme, allerdings war sie zu verzerrt und zu weit entfernt, um dies wirklich sicher sagen zu können. Wasser hatte meinen Pullover durchtränkt und mir die Haare an die Wangen geklebt. Meine Lider fühlten sich bleischwer an. Zu schwer, um mir die Mühe zu machen, sie zu öffnen. Ich sank in die Arme, die mich hochhoben, erschlaffte und fiel in die Dunkelheit zurück.
Zeit verstrich. Wie viel, vermochte ich nicht abzuschätzen. Ich wusste nur, dass ich in Richtung Bewusstsein aufstieg und mit allem, was ich hatte, dagegen ankämpfte. Ein Erwachen versprach nur Schmerzen, Pflichten und zu viele Fragen, während der Schlaf mir Frieden bo t – und eine Art von Schatten, wie es ihn im Sonnenlicht mitten auf dem Wasser geben konnte. Ich war fertig. Schlaf war alles, was ich noch wollte.
Man bekommt aber nicht immer, was man will. Die Schmerzen setzten ohne Vorwarnung ein. Ich japste nach Luft, schlug die Augen überrascht auf und presste sie sogleich wieder zu, als mein Kopf zu pochen anfing. Der flüchtige Blick auf meine Umgebung, den ich
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