October Daye: Winterfluch (German Edition)
gegen die Stelle, an der die Kugel eingedrungen war. Es half nichts. Ganz gleich, wie viel Druck ich auch ausübte, ich konnte die Blutung auf meinem Rücken nicht eindämmen. Schaudernd wischte ich mir mit der linken Hand über die Lippen und erstarrte. Sie waren nass.
Während ich das Blut betrachtete, das meine Finger verschmierte, dachte ich über die Ironie der Geschehnisse nach. Ich hatte Simon Torquill und Oleander de Merelands ebenso überlebt wie die Belagerung am Hof der Königin, und nun verblutete ich im Sechs-Uhr-Fünfzehn-Bus, umgeben von Menschen, die so taten, als wäre alles okay. Bei Helden redet man davon, dass sie »gute Tode« sterben. Man denkt, jemand sei gut und tapfer dahingeschiede n – dann eröffnet jemand das Feuer, und man erkennt, dass der Tod, so gut er auch sein mag, auf jeden Fall das Letzte ist, was man je bekommen wird. Für meine Begriffe genügt das, um ihn alles andere als gut zu machen.
Eines wusste ich: Herumsitzen würde mich nicht retten. An der nächsten Haltestelle zwang ich mich, aufzustehen und zum Ausgang zu wanken. Wenn ich schon verbluten müsste, wollte ich es zumindest draußen tun. Mein Kopf drehte sich bei jedem Schritt. Mir war nicht klar gewesen, wie viel Blut ich verloren hatte, bis ich mich wieder in Bewegung setzte.
Die Stufen des Busses schienen höher geworden zu sein, während ich gesessen hatte. Ich stützte mich schwer auf das Geländer und stieg langsam hinab. Unten angekommen, erstarrte ich mit pochendem Schädel und versuchte, das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Wo war ich? Hatte sich der Bus überhaupt bewegt? Blutverlust und eine Eisenvergiftung richten interessante Dinge im Gehirn an, und plötzlich war ich mir nicht mehr ganz sicher.
»He, Sie, steigen Sie aus?«, fragte der Busfahrer.
»Wo bin ich?«, erkundigte ich mich. Die Worte hallten wider, als wären sie in einen langen Tunnel gebrüllt worden.
Der Fahrer schien nicht zu bemerken, wie verzerrt meine Stimme klang. Armer Kerl. Er musste halb taub sein. »Wir sind am Nordeingang des Golden-Gate-Parks. Ist das Ihre Haltestelle?« Nach einer kurzen Pause fügte er mit sanfterer Stimme hinzu: »Brauchen Sie einen Arzt?«
Ich schüttelte den Kopf, trat von der letzten Stufe auf den Fußweg und hinterließ meine Fingerabdrücke auf dem Geländer. Vage kam mir der Gedanke, dass es keine gute Idee sein könnte, blutige Handabdrücke in der Stadt zu verteilen; ich war bloß nicht sicher, weshalb. Der Fahrer sah erst mich an, dann das Blut an seinem Bus und schüttelte schließlich den Kopf. Ich wollte noch einen markigen, einprägsamen Spruch anbringen und ihm sagen, es ginge mir gut, doch ich war nicht sicher, ob die Worte nicht auf Kantonesisch rauskämen, nur um mich zu ärgern. Ich verpasste die Gelegenheit, so ich sie denn überhaupt hatte. Die Türen schlossen sich, und der Bus fuhr los. Ich blieb auf dem Fußweg vor dem Golden-Gate-Park zurück.
Der Golden-Gate-Park. Ich kannte hier ein paar Leute. Dessen war ich mir so gut wie sicher. Ich drehte mich um, stolperte an Joggern und Touristen vorbei und setzte mich den Asphaltpfad entlang in Bewegung, der in den eigentlichen Park führte.
Der Weg wand und krümmte sich. Ich folgte ihm mit sturer Entschlossenheit, ohne mich wirklich darum zu kümmern, wie er verlief. Das Denken fiel mir zunehmend schwer. Meine Schulter blutete immer noch, aber sie schmerzte eigentlich nicht mehr; ich war fast schon zu benommen, um in Bewegung zu bleiben, und es tat auch nicht mehr weh. Was kein gutes Zeichen war. Wenn bei Schussverletzungen die Schmerzen aufhören, liegt das in der Regel daran, dass man nicht mehr stark genug für sie ist. Der Körper sperrt sie aus, statt sich ihnen zu stellen. Aber immerhin befand ich mich im Park. So weit hatte ich es schon mal geschafft. Unter Umständen hatte ich noch eine Chance.
Der Golden-Gate-Park untersteht keiner einzelnen Herrschaft. Von außen mag er wie ein riesiges Besitztum aussehen, aber das ist er nicht; vielmehr gleicht er einem Korallenriff winziger Lehen, die seine Landschaft wie Sterne sprenkeln. Ein Großteil der Macht des Parks liegt in den Portalen, die er verbirgt. Wenn es mir gelänge, eines davon zu erreichen, bevor mich die Kraft verließ, könnte ich es vielleicht überstehen. Die Wahrscheinlichkeit schien gering, aber es war immerhin möglich. Und wenn ich es nicht zu einem der Portale schaffte, würde ich mit etwas Glück an einer Stelle zusammenbrechen, wo man meinen Körper erst fände,
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