October Daye: Winterfluch (German Edition)
»Pst«, sagte sie. »Halt still.«
»Ja, Ma’am«, gab ich zurück und sah ihr dabei zu, wie sie über mich hinweggriff, um ein Büschel Fingerhüte vom moosigen Boden zu pflücken.
Ihre Hände waren zierlich und mit feinen silbrigen Schuppen bedeckt. Zwischen den Fingern spannten sich bis zum ersten Knöchel Schwimmhäute. Nur ihre Fingernägel wirkten menschlich, und selbst sie schimmerten in einem fahlen Silberblau. Wenn ich den Kopf richtig drehte, konnte ich den Schatten ihres Gesichts sehen, und die Erinnerung lieferte mir, was meiner Sicht verborgen blieb. Lily besaß erstaunlich fein geschnittene Züge, jadegrüne Augen und langes schwarzes Haar, das sie mit Weidenzweigen zurückgeflochten trug. Ihre blasse Haut zierten feine silbrige und grüne Schuppen. Sie war wunderschön, doch war dies keine menschliche Schönheit. Selbst für Fae-Begriffe galt Lily als einzigartig.
»Oh, October«, sagte sie und schwenkte die Blumen über meinem Gesicht. »Du bist mir die liebste Art von Rätsel, Kin d – die Art, die keinerlei Sinn ergibt. Darf ich dir diesmal helfen, oder möchtest du lieber wegen dem verbluten, was zwischen uns vorgefallen ist?«
»Wie hast du mich hierhergebracht?«, fragte ich und sah an den Blumen vorbei in ihr Gesicht.
»Das habe ich nicht«, antwortete sie lächelnd. »Blut im Wasser, erinnerst du dich? Als du vor meine Tür gebracht wurdest, konnte ich dich hereinlassen und dir Hilfe leisten, weil du mir mit dem Blut die Genehmigung dazu erteilt hattest. Mehr kann ich ohne deine Zustimmung nicht tun.«
»Vor deine Tür gebracht?«, hakte ich nach.
»Du hast mehr Freunde, als du glaubst, October. Lässt du mich dir nun helfen?«
Undinen-Magie unterliegt gewissen Regeln. Als ich in Lilys Wasser blutete, erteilte ich ihr damit die Erlaubnis, mich am Leben zu erhalten; mehr konnte sie nicht tun, bis ich es ihr gestattete.
»Natürlich«, sagte ich und schloss die Augen wieder. In Anbetracht dessen, dass Evenings Fluch über mir schwebte, konnte ich es mir nicht leisten, eine Hilfe auszuschlagen, die man mir anbot.
»Also gut. Ruh dich vorerst aus, October. Ich brauche etwas mehr von dir.« Ich spürte, wie sie mit den Fingerhüten die Ränder meiner Schulterwunde berührte und über den schlimmsten Schaden fuhr. Die Blumen brannten, als sie die Haut berührten, bevor sich von den Blütenblättern eine kühle, betäubende Gefühllosigkeit auszubreiten begann. Fingerhüte sind gifti g – wunderschön, tödlich und wahrscheinlich nicht gerade ideal, um sie in eine offene Wunde einzuführen. Andererseits hatte ich den ganzen Tag lang mit Pilzen bezahlt, zudem bin ich keine Heilerin. Wenn Lily dachte, es würde mir helfen, Fingerhüte in meine Schulter zu reiben, dann hatte sie vermutlich recht damit, und selbst wenn nicht, konnte sie unmöglich mehr Schaden anrichten als bereits vorhanden war.
Lily stimmte einen japanischen Sprechgesang an. Die betäubende Kühle breitete sich weiter aus, stumpfte das Gefühl in meinem Arm und Hals ab, als der Duft von Lilien und Hibiskusblüten die Luft erfüllte. Nachdem der Gesang geendet hatte, legte sie mir die Hand auf die Wange und sagte: »Die Welt erwartet dich und wird bei deiner Rückkehr hier sein.«
Mehr Ermutigung brauchte ich nicht. Seufzend gab ich den Kampf auf, wach zu bleiben, und ließ mich zurück in die Finsternis gleiten.
Lily ist schon ein Bestandteil meines Lebens, so lange ich zurückdenken kann, sogar länger als Sylvester, und das will etwas heißen. Mama nahm mich oft in den Teegarten mit, als wir noch Menschen spielten. Papa ließen wir unter dem Vorwand zu Hause, dass es ein »Ausflug nur für Mädchen« sei. Lily war immer da und freute sich, uns zu sehen, beobachtete meine Mutter jedoch mit einer Vorsicht, die ich erst viel, viel später verstand. Lily beobachtete sie, weil es schwierig ist, einer Fae-Braut zu vertrauen; eine Fae-Braut baut ein Leben auf Lügen auf und verleugnet alles, was ihr in die Quere kommt.
Sie war immer noch da, als ich die Sommerlande verließ. Kurz hatte ich mit dem Gedanken gespielt, ihr statt Devin zu dienen, aber Devins Angebot war cooler und aufregender gewesen, und ich war immerhin die Tochter meiner Mutter: also auf der Suche nach Aufregung. Dennoch blieben wir uns weiterhin nah, und ihre Tür stand mir immer offen, bis zu dem Tag, an dem alles falsch lie f … für uns beide.
Einige Tage, nachdem ich mich aus dem Teich befreit hatte, suchte ich Lily auf, nach wie vor in einem
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