Oder sie stirbt
atmete leise aus. Hörte ich da ein gedämpftes Quietschen von innen, oder war das der Boden unter meinen Füßen? Langsam und vorsichtig bückte ich mich, um durch das altmodische Schlüsselloch zu spähen.
Aus dem Schlüsselloch blinzelte mir ein Auge entgegen.
Mit einem Aufschrei machte ich einen Satz rückwärts. Die Tür flog auf, ein gedrungener Mann im ärmellosen Unterhemd warf sich auf mich und drückte mich gegen das Geländer.
»Wer sind Sie?«, schrie er. »Was soll das Ganze?«
Er schlug zu und warf mich zu Boden, schien aber nicht recht zu wissen, was er eigentlich mit mir anstellen sollte. Ich stieß ihn zurück, rappelte mich hoch, und wir standen einander gegenüber, bis uns klarwurde, dass es eigentlich keiner von uns beiden auf einen Kampf abgesehen hatte.
Sein Atem kam stoßweise, aber er schien eher aufgeregt als wütend. Er war ungefähr 1 , 75 Meter, also ein paar Zentimeter kleiner als ich, aber dafür massiger. Fleischige Arme quollen aus seinem schmuddeligen Unterhemd. Seine struppigen Locken in Kombination mit dem zurückweichenden Haaransatz standen in einem merkwürdigen Gegensatz zu seinem toughen Auftritt und wirkten fast komisch.
Er zeigte auf die lila DVD -Hülle, die zerbrochen auf seiner Schwelle gelandet war. »Warum krieg ich ständig diese Dinger von Ihnen?«
Mir blieb vor Überraschung der Mund offen stehen. »Das … Das tu ich doch gar nicht. Irgendjemand legt
mir
ständig DVD s vor die Haustür. Mit Aufnahmen von mir selbst, aufgenommen von einer Überwachungskamera. Diesmal hat man mir diese DVD hingelegt, zusammen mit Ihrer Adresse.«
Ohne die Augen von mir zu nehmen, hob er die Hülle auf und klappte sie auf. Dann blickte er rasch auf die DVD . »Benutzen Sie zu Hause auch diese Sorte DVD s?«
»Nein. Ich hab andere …« Ich brauchte einen Moment, bis mir seine Formulierung auffiel. »Sie schicken Ihnen also auch Aufzeichnungen auf Ihren
eigenen
DVD s?«, fragte ich langsam.
»Ja. Durch den Briefkastenschlitz. Unter meinem Scheibenwischer. In meiner Mikrowelle.« Er wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab, dann fuhr er sich mit einer raschen, zittrigen Bewegung mit dem Daumen übers Handgelenk. »Lauter kleine Filmchen von mir – wie ich im Park spazieren gehe, einkaufen gehe … All so was.«
»Haben sie Sie angerufen? Auf dem Handy?«
»Nein. Ich hab kein einziges Mal mit jemandem gesprochen. Aber mein Handy geht sowieso nicht mehr – hab die Rechnungen nicht mehr bezahlen können. Und Festnetz hab ich nicht.«
»Haben Sie die DVD s noch?«
Wieder fuhr er sich mit dem Daumen übers Handgelenk, offensichtlich ein nervöser Tic von ihm. »Nein. Hab ich weggeschmissen. Warum sollte ich die aufbewahren?«
»Wie lange geht das schon so?«
»Zwei Monate.«
»Zwei
Monate?
Oh Gott, bei mir hat es vor fünf Tagen angefangen, und ich bin schon …« Das Grauen packte mich, und ich musste kurz innehalten und Luft holen.
»Warum ich?« Er klopfte sich mit der Faust auf den Brustkorb. »Warum filmen die
mich?
Beim Tanken?«
»Mich haben sie beim Pinkeln gefilmt. Haben Sie mit der Polizei gesprochen?«
»Für die Polizei hab ich nichts übrig. Außerdem – was sollen die schon dazu sagen?«
»Wie hat man Kontakt mit Ihnen aufgenommen?«, wollte ich wissen.
»Da hat keiner Kontakt mit mir aufgenommen. Ich krieg immer bloß diese DVD s. Ich weiß nicht, warum …«
»Warum sie das mit uns machen.«
Seine Miene hatte sich inzwischen verändert. Auf einmal waren wir Kameraden, Patienten mit derselben Krankheit. »Warum sie uns ausgesucht haben«, sagte er.
Vielleicht hatte er tatsächlich recht, und wir sollten uns kennenlernen, um gemeinsam irgendetwas herauszufinden. Unsere Blicke wanderten gleichzeitig zu der DVD , die er in der Hand hielt.
Er machte auf dem Absatz kehrt und lief in seine Wohnung, ich folgte ihm. Kaum hatte ich den Fuß über die Schwelle gesetzt, überwältigte mich massiver Schimmelgeruch. Ich roch ihn nicht nur, sondern hatte vielmehr das Gefühl, dass er mir in jede Pore drang. Die Vorhänge waren zugezogen, und im Dämmerlicht sah ich dem Mann blinzelnd zu, wie er die DVD in einen Player unter einem klobigen Fernsehapparat fummelte. Auf dem fleckigen Teppich lagen überall schmutzige Kleidungsstücke und Supermarkttüten herum, neben ein paar DVD s in violetten Hüllen, die mit Namen verschiedener Fernsehserien beschriftet waren. Keine Stühle, kein Sofa, kein Tisch neben der provisorischen Küchenzeile. Die
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