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Oder sie stirbt

Oder sie stirbt

Titel: Oder sie stirbt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregg Hurwitz
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einzigen Gegenstände, die man nicht hätte zusammenfegen können, waren eine doppelte Matratze in der Ecke, auf der ein Haufen Decken lag, und der Fernseher, der auf einem arg beanspruchten Metallgestell stand.
    Er richtete sich auf und trat ein paar Schritte zurück. Schulter an Schulter standen wir da und starrten auf den Bildschirm. Sein Knie zitterte wie ein Presslufthammer.
    Das Bild erschien. Erdgeschoss, Treppen, Zementboden.
    »Das ist nichts Besonderes«, erklärte ich. »Da kommt bloß …«
    Doch er ächzte entsetzt und ging in die Knie. Er kroch zum Fernseher, drückte auf die Pausentaste und hielt das Gesicht ganz dicht vor den Bildschirm, um in der Ecke rechts unten irgendetwas genauer zu betrachten. Erst als ein herzzerreißendes Stöhnen durch den Raum tönte, wurde mir klar, dass der Mann weinte. Er legte das Gesicht auf den dunklen Teppich und schluchzte. Verdattert blieb ich ein paar Schritte hinter ihm stehen.
    Er wiegte sich hin und her und weinte immer weiter.
    »Sind Sie …?«, begann ich ratlos. »Kann ich Ihnen irgendwie …?«
    Er rappelte sich hoch, ließ sich gegen mich fallen und drückte mich an sich. Säuerlicher Schweißgeruch stach mir in die Nase. »Danke. Danke. Gott segne Sie, Mann.«
    Ich hob einen Arm, um ihm ungeschickt den Rücken zu tätscheln, aber dann blieb meine Hand doch in der Schwebe. »Ich wüsste nicht, was ich getan hätte. Ich habe keinen Schimmer, was das ist.«
    »Bitte«, sagte er und trat einen Schritt zurück. Er blickte sich um, als fiele ihm erst jetzt auf, dass er mir keine Sitzgelegenheit anbieten konnte. »Tut mir leid, ich weiß nicht, wann ich zum letzten Mal Besuch …« Er wirkte völlig neben der Spur.
    »Schon in Ordnung.« Ich setzte mich auf den Boden.
    Er folgte meinem Beispiel. Dann begann er zu gestikulieren, brachte aber kein Wort über die Lippen. Er saß in dem gelblichen Lichtviereck, das durch die dicken, staubigen Vorhänge hinter ihm fiel. Ein Wasserfleck in der Ecke hatte den Teppich verfärbt und kroch die Wand hoch.
    »Ich war Hausmeister«, begann er schließlich, »in einer High School in der Nähe von Pittsburgh. Der Boiler ging kaputt, und wir hatten nicht viel Geld über. Sie wissen schon, die ganzen Budgetkürzungen und so …« Wieder fuhr er sich mit dem Daumen übers Handgelenk, als wollte er die Haut glatt streichen. »Ein Typ von der Schulbehörde hatte irgendwas mit so einem sozialen Wohnungsbauprojekt zu tun, die rissen gerade einen Block ab oder so, ist ja auch egal. Er hat jedenfalls so einen Riesenboiler von dort besorgt.« Er wies auf den Boiler auf dem Bildschirm. »Den haben sie mir geliefert, und ich sollte ihn installieren. Das war schon ein älteres Teil, und ich meinte auch, der gefällt mir gar nicht. Sie meinten, der Boiler solle ja auch keine Schönheitswettbewerbe gewinnen, aber man hätte ihn getestet, und er entspreche den Anforderungen. Also baute ich ihn ein. Das Dumme war … das Dumme war, dass sie das Ding für den Transport geleert hatten, und danach haben sie das Überdruckventil verschlossen, damit beim Transport kein Restwasser ausläuft.« Er verstummte.
    »Und dann?«, fragte ich.
    »Damals hab ich getrunken. Jetzt trink ich nicht mehr. Aber es ist schon möglich, dass ich an dem Morgen ein paar Tropfen getrunken hab. Also, an dem Morgen, als ich das Teil eingebaut hab. Einfach, damit ich in die Gänge komm. Am dritten November.«
    Ich blickte auf das eingeblendete Datum auf dem Bildschirm:
03

11

05
.
Eine Vorahnung befiel mich, und meine Haut begann zu prickeln.
    »Hinter der Wand ist ein Kellerraum. Da drin fand der Werkunterricht statt.« Er deutete mit zitternder Hand auf den Bildschirm, und ich sah eine dünne weiße Linie Narbengewebe auf der Innenseite seines Handgelenks. Am anderen Handgelenk entdeckte ich dasselbe Andenken an die Rasierklinge. »Als der Boiler explodierte und die Wand zerstörte, kam ein Kind ums Leben. Einem Mädchen hat es fast das ganze Gesicht verbrannt. Dass sie es überhaupt überlebt hat … tja, auf ’ne Art ist das vielleicht noch schlimmer, als wenn sie auch gestorben wäre.« Er strich sich wieder über die dünne Narbe und schaukelte weiter. »Bei den Ermittlungen hat jemand die Flasche in meinem Spind entdeckt. Natürlich ging es um die Schuldfrage, wer für dieses Unglück haften muss. Und es hieß, ich hätte vergessen, den Draht wieder zu entfernen, mit dem das Überdruckventil verschlossen worden war. Und dann konnte sich das Ventil

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