Odins Insel
als er selbst zu sein. Er hatte sie jetzt mehrmals in der Woche. Er ging ins Wohnzimmer, holte sein Notizbuch heraus und schrieb den Satz auf, den er unmittelbar vor dem Aufwachen mitbekommen hatte: Niflheim lag nördlich des Nichts, Muspelheim gen Süden. Das machte keinen Sinn.
Aber er hatte keine Zeit, sich weiter darüber den Kopf zu zerbrechen; jetzt war für den einzigartigen Lennart Torstensson die Zeit gekommen zu handeln. Er holte eine rote Mappe aus einer Schublade und ging den Inhalt durch. Alles war da: eine Fahrkarte für den Zug von der Hauptstadt der Europäischen Bastion nach Fredenshvile, zwei Fahrkarten für die Fähre über die Meerenge von Fredenshvile zu der kleinen nordnordischen Hafenstadt Lind und zwei Fahrkarten für den Zug von Lind nach der nordnordischen Hauptstadt Godeholm. Darüber hinaus befanden sich in der Mappe Geldnoten in südnordischer und nordnordischer Währung sowie eine Wegbeschreibung zu dem grün-orangenen Fischerboot, die der einzigartige Lennart Torstensson anhand von Herrn Odin Odins Erklärungen angefertigt hatte. Er rief das Fahrkartenbüro an und reservierte für den gleichen Abend einen Platz im Zug nach Fredenshvile, notierte sich die Platzreservierungsnummer und legte die Mappe weg.
Dann holte der einzigartige Lennart Torstensson einen kleinen Lederkoffer von seinem Kleiderschrank. Er ging dessen Inhalt
durch. Außer einem Satz Kleidung für ihn und diversen notwendigen Toilettenartikeln enthielt er einen kleineren Satz Kleidung mit einem Hut, der Herrn Odin Odin hoffentlich passte. Als er sicher war, dass alles bereit war, füllte er die Badewanne mit Wasser und stieg hinein. Er legte den Kopf zurück auf ein Kissen aus Seifenschaum und ging noch einmal seinen Plan durch. Der war wasserdicht. Der einzigartige Lennart Torstensson würde Samstagmorgen um halb elf auf dem Hauptbahnhof von Fredenshvile ankommen, und bis zum Abend würde er, der heldenhafte Lennart Torstensson, mit dem Einwohner der Hermod-Skjalm-Insel in Godeholm sein.
Während der heldenhafte Lennart Torstensson letzte Hand an seine Vorbereitungen anlegte, schob Sigbrit Holland die Dokumente auf ihrem Schreibtisch von der einen Seite auf die andere, ohne weiterzukommen, und am späten Nachmittag war der Stapel größer als am Morgen, als sie gekommen war. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Morgen würden der Fischer Ambrosius und Odin aufbrechen, und sie würde zurückbleiben – mit der wichtigen Spur von Kapitän Hans Adelstensfostre, die auf diese Weise zu nichts zu gebrauchen war.
Sie ließ ihren Blick über die Bürolandschaft schweifen und betrachtete die gebeugten Rücken ihrer Kollegen. Die jährliche Sondervergütung hing von dem gemeinsamen Verdienst der Abteilung ab, nicht von dem Einsatz des Einzelnen. Sigbrit Holland wusste das genau, und genauso genau wusste sie, dass einige ihrer Kollegen sie ziemlich scheel ansahen, da sie seit Monaten nicht ihren Teil dazu beigetragen hatte. Aber daran konnte sie nichts ändern. Nicht einmal die Unheil verkündende Notiz des Direktors, dass er sie Montag um zehn in seinem Büro erwarte, konnte sie dazu bringen, sich auf die Dollarbewegungen zu konzentrieren. Sie trommelte leicht mit den Fingern auf den Tisch. Wie in aller Welt konnte sie den Fischer Ambrosius überzeugen, nach Altnorden zu segeln?
Sie richtete sich auf. Etwas konnte sie tun. Sie fuhr mit dem Stuhl vor den Computer und klickte sich ins Internet. Altnorden, wie langsam das ging. Aa, ab, ac, ad, ade. Ja, hier war es. Adelstensfostre,
Benjamin Adelstensfostre. Nur dieser eine Name war registriert, aber er würde sich hoffentlich als ausreichend erweisen. Sigbrit Holland schrieb eine kurze E-Mail, in der sie anfragte, ob es noch andere Adelstensfostres in Altnorden gebe und ob Benjamin Adelstensfostre wisse, ob einige davon Nachkommen von Kapitän Hans Adelstensfostre waren, der zu Beginn des 17. Jahrhunderts gelebt hatte. Sie schickte ihre Anfrage ab und konnte nur hoffen, dass Benjamin Adelstensfostre seine E-Mail vor Samstagmorgen las.
Plötzlich fuhr Sigbrit Holland zusammen; einer ihrer Kollegen stand direkt hinter ihr und sah über ihre Schulter auf den Bildschirm.
»Ich würde aufpassen, wenn ich du wäre«, flüsterte er nicht unfreundlich, aber trotzdem nicht ohne eine gewisse Kälte.
Sigbrit Holland blickte mutlos zu dem Stapel mit Dokumenten, der vor ihr lag. Mit einem Seufzer nahm sie das erste in die Hand. Doch anstatt es zu lesen, lehnte sie sich plötzlich
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