Odins Insel
trägt Macht in sich.« Sie lachte leise. »Hoheitsgebiete können einander bekriegen, ethnische Gruppen können einander bekriegen, Kulturen können einander bekriegen, Glaubensrichtungen können einander bekriegen. Diesmal wird Eitelkeit Eitelkeit bekriegen.«
Es war früh am Abend. Sie waren in einer fast nicht existierenden Hafenstadt, die aus einer Reihe roter Holzhäuser und einem kleinen Kaufmannsladen bestand, vor Anker gegangen. Sie hätten Karlsund, wo sie Proviant aufnehmen wollten, bevor sie weiter zur Grinde-Insel segelten, gut erreichen können, doch der Fischer Ambrosius hatte beschlossen, dass das Risiko, die Nacht in einer größeren Stadt vor Anker zu gehen, zu groß war. Zu Sigbrit Hollands Überraschung hatte sie in dem kleinen Kaufladen eine Oldnordens Tidende – eine überregionale altnordische Zeitung – bekommen, die erst einen Tag alt war.
Sigbrit Holland schob die Zeitung zur Seite und stand auf. Einen Moment sah sie aus dem Fenster auf das dunkle Wasser. Der Wind war frisch, und selbst im Hafen waren die Wellen hoch. Das grün-orangene Fischerboot schaukelte von einer Seite auf die andere, und die Vertäuungen klangen, als würden sie auseinander reißen. Sie drehte sich um.
»Wir müssen etwas tun!«, sagte sie.
»Wenn der Glaube Krieg führen will, kann der Gedanke nichts ausrichten«, sagte Brynhild Sigurdskaer leise.
»Das kann nicht Ihr Ernst sein!« Sigbrit Hollands Stimme war schrill. »Sie wissen genauso gut wie ich, dass alles mit Odin seinen Anfang genommen hat. Wir sind Teil davon, und wir müssen etwas tun, um dem Einhalt zu gebieten!«
»Man sollte sich wahrlich nicht streiten, es sei denn, es ist unumgänglich«, bemerkte Odin und wickelte sich den Bart um die
Finger, während er darüber nachdachte, wo er wohl früher von dem Krieg gehört haben mochte, von dem Brynhild Sigurdskaer sprach. »Aber, wenn ich Herrn Bramsentorpfs kranken Beamten erzählen würde …«
»Nein, Odin. Das geht nicht. Sie haben gesehen, was passiert, sobald Sie zu den Fanatikern sprechen.« Der Fischer Ambrosius lächelte den kleinen alten Mann an. »Denken Sie nicht mehr darüber nach. Unsere holde Frau hat es nicht so gemeint.«
Der Fischer zwinkerte Sigbrit Holland zu.
»Aber etwas müssen wir doch tun«, beharrte sie.
»Das Problem ist, dass wir nichts tun können. Das ist nicht unsere Aufgabe.«
»Wie meinst du das: nicht unsere Aufgabe ? Bald klingst du genauso wie mein Mann, mein Ex-Mann!«
Der Fischer Ambrosius lächelte unbeeindruckt und tat Milch und Zucker in den Kaffee.
»Im Moment haben wir wichtigere Dinge zu tun. Vergiss nicht, dass jemand für Odin den Weg zurück zu der Insel finden muss. Und dieser Jemand sind zufällig wir.«
»Aber wir können doch nicht einfach hier sitzen und nichts tun, während die Leute zu Hause umgebracht werden.« Sigbrit Holland hatte einen roten Kopf, und ihre Finger trommelten aufgebracht gegen die Wand des Steuerhauses.
»Manchmal ist es deine Aufgabe, manchmal ist es das nicht.« Der Fischer rührte mit dem Ende einer Gabel langsam in seiner Tasse. »Die Kunst besteht darin zu wissen, wann das eine und wann das andere zutrifft.«
»Es kann gut sein, dass du Recht hast. Aber es gefällt mir trotzdem nicht!«
»Glaubst du, uns gefällt das?« Der Fischer legte die Gabel hin und griff nach der Tasse. Er nippte an seinem Kaffee. »Aber versuch dir einmal vorzustellen, was passieren würde, wenn wir jetzt nach Hause führen. Wir würden Odin direkt in die Höhle des Löwen schicken und sein Leben in Gefahr bringen. Du könntest auch alleine fahren, aber was willst du erreichen? Die Demonstranten bitten, sich nicht gegenseitig umzubringen? Oder sie bitten, nicht länger fanatisch zu sein? Oder ihnen erzählen,
dass sie sich irren?« Der Fischer Ambrosius nahm noch einen Schluck Kaffee. »Ehrlich gesagt, holde Frau, können weder du noch wir irgendetwas tun.«
»Das stimmt nicht. Ich könnte Gegendemonstrationen organisieren. Gesetze verlangen, die so ein Verhalten verbieten!«
»Mit anderen Worten, du willst, dass die Regierung ungesetzliche Aktivitäten verbietet?« Die Stimme des Fischers klang sehr zärtlich, als täte es ihm Leid, ihr widersprechen zu müssen. »Demonstrationen sind zwar erlaubt, Gewalt aber nicht. Und öffentliche Aufrufe zu Gewalt sind ebenfalls verboten.«
»Das ist egal. Man muss etwas tun! Ich glaube nicht, dass der größte Teil der südnordischen Bevölkerung das billigt, was vor sich geht.« Sigbrit Holland
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