Odins Insel
teil an dem unbekümmerten Schlaf des Fischers zu haben. Sie hob die Decke und kroch vorsichtig in die Koje. Der Fischer bewegte sich und murmelte ein paar undeutliche Laute, aber er wachte nicht auf. Die Koje war schmal, aber wenn sie auf der Seite lag, hatte sie genug Platz. Ambrosius’ Körper war warm, und Sigbrit Holland spürte, wie da, wo ihre Haut sich berührte, seine Wärme allmählich zu ihrer wurde. Sie stützte den Kopf auf dem Arm ab und studierte lange seine Züge. Er schlief wieder ganz fest. Sigbrit Holland ließ ihre Finger ganz leicht über das Gesicht des Fischers wandern – über seine breite Stirn, über die buschigen Augenbrauen, die wettergegerbten Backenknochen, über seinen Nasenrücken, mitten durch den getrimmten Bart, über die vollen, leicht aufgesprungenen Lippen, die sich noch immer in einem sorglosen Lächeln bogen. Sie beugte sich vor und berührte mit ihren Lippen erneut die des Fischers. Diesmal ließ sie sie jede Falte, jede einzelne Linie erforschen, und schließlich konnte sie es spüren: sein Lächeln in ihrem Mund. So lange sie konnte, presste sie ihre Lippen auf seine. Dann begann ihr Nacken zu schmerzen, und sie hob den Kopf.
»Bleib«, flüsterte der Fischer Ambrosius und öffnete die Augen.
Verlegen setzte Sigbrit Holland sich auf.
»Ich habe Angst«, sagte sie leise.
»Haben wir das nicht alle?« Der Fischer legte den Arm um ihren Rücken und zog sie zu sich herunter. Aber er hielt sie wie ein Kind, nicht wie eine Frau.
»Du schläfst, unbeeindruckt von dem Ganzen.«
»Nein, das tun wir nicht. Wir schlafen, um dem entgegentreten zu können, das du das Ganze nennst. Ohne Schlaf geht nichts.«
»Aber Südnorden…«
»Genau. Südnorden ist nur ein Ort, wo die Menschen ein wenig auf Abwege geraten sind. Das ist bedrückend, aber so ist es.« Er ließ seine Hand ganz langsam ihren Rücken hinunterwandern. »Du kannst von jetzt bis Weihnachten wach liegen, ohne dass das auch nur das Geringste ändert.«
»Ich glaube nicht, dass der Mensch notwendigerweise Böses tun muss«, flüsterte Sigbrit Holland.
»Das sagen wir auch nicht. Der Mensch ist weder gut noch böse. Nicht mehr als alle anderen lebenden Wesen.« Der Fischer Ambrosius seufzte. »Nur ist der Mensch von Natur aus so, dass er manchmal ein wenig gezügelt werden muss, um sich nicht zu verlaufen. Das ist weder gut noch schlecht, nur schmerzhaft.«
»Du klingst so zynisch.« Sigbrit Holland biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. »Ich glaube daran, dass das eine richtig und etwas anderes falsch ist und dass die Leute wählen können, ob sie das eine oder das andere tun. Sie können sich dafür entscheiden, sich nicht zu verlaufen.«
»Wir sind nicht zynisch, nur realistisch.« Wieder seufzte der Fischer. »Vielleicht hast du Recht. Aber in dem Fall ist es nur noch schlimmer, denn dann entscheidet der Mensch sich tatsächlich, böse oder falsch – oder wie wir es nun nennen wollen – zu sein, zu handeln.« Er hustete leicht. »Jedenfalls geht es bei gut und böse, richtig und falsch nur darum, wer die Worte ausspricht. Du kannst versichert sein, dass alle Weltuntergangspropheten, die einander abschlachten, um das Vorrecht zu bekommen, an Odin zu glauben, behaupten werden, dass sie eine gute Tat tun, wenn sie die bekämpfen, die sie für ungläubig halten. Sie sind überzeugt, dass sie die Menschheit vor der Hölle retten.«
Sigbrit Holland schüttelte den Kopf, und ihr Gesicht verzog sich kurz vor Schmerz. Sie dachte eine Weile über das nach, was der Fischer Ambrosius gesagt hatte. Dann fiel ihr der Appell der Regierung ein.
»Sollen wir sie anrufen?«, fragte sie, ohne sich näher zu erklären.
»Nein«, antwortete der Fischer Ambrosius bestimmt. »Wir vertrauen ihnen nicht. Selbst wenn wir nicht sagen, von wo wir anrufen, können sie uns nur allzu leicht aufspüren. Und obwohl
die Regierung nichts Böses im Schilde führt, gibt es viel zu viele, die Odin haben wollen.« Er zögerte einen Augenblick, dann sagte er leise: »Morgen brechen wir auf. Um den Rest kümmern wir uns später.«
Ohne Rücksicht auf die Schmerzen im Rücken setzte Sigbrit Holland sich abrupt auf.
»Wir können doch nicht zurückreisen, bevor wir etwas gefunden haben.«
»Wir können auch nicht hier bleiben, ohne etwas zu finden!«, antwortete der Fischer ruhig. »Wir haben alles versucht, um mit dem Eremiten ins Gespräch zu kommen, du hast sogar dein Leben aufs Spiel gesetzt, und trotzdem hat es nichts genützt. Er
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