Odins Insel
den Arm um sie. »Ich habe jede Nacht gewartet, seit ich dich das erste Mal gesehen habe, jede Nacht, seit du in Sand Havn auf die Rikke-Marie gekommen bist, und jede Nacht, seit wir zur Insel Grinde gekommen sind.«
»Warum hast du nichts gesagt?«
»Weil es an dir lag.« Er zögerte. »Ich habe dir nichts zu bieten außer mir selbst und keine Zukunft. Die Zweisamkeit eines Augenblicks.«
»Das weiß ich sehr wohl.« Sigbrit Holland küsste den Fischer wieder. »Nach mehr frage ich nicht.«
Ein grauer Lichtkegel schlich sich in die Koje, und Sigbrit Holland schlug die Augen auf. Sie hatte nahezu überhaupt nicht geschlafen, war aber trotzdem hellwach. Sie lauschte den ruhigen Atemzügen des Fischers Ambrosius und streckte sich schläfrig. Dann setzte sie sich abrupt auf. In wenigen Stunden würden sie die Insel hinter sich lassen, und sie wussten nicht mehr über die Einfahrtroute als bei ihrer Ankunft. Ohne den Fischer zu wecken,
glitt sie vorsichtig aus dem Bett, zog Hose und Pullover an und kletterte die Leiter zum Steuerhaus hinauf. Sie suchte nach einem Bleistift und einem Stück Papier und schrieb einen kurzen Brief. Dann faltete sie den Brief zusammen und steckte ihn in die Tasche, holte eine Flasche Schnaps aus der Vorratskammer des Fischers und verließ die Rikke-Marie.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber das diesige Morgenlicht wies ihr den Weg, und bald hatte Sigbrit Holland die Spitze des Hügels erreicht. Einen Augenblick betrachtete sie die Steinhütte des Eremiten. Kein Zeichen von Leben war zu sehen, trotzdem verlangsamte sie ihr Tempo und sah bewusst zu dem alten Leuchtturm hinüber, als würde sie auf ihn zugehen. Als sie die Gartenpforte erreicht hatte, zog sie den zusammengefalteten Brief aus der Tasche, legte ihn auf die Erde und stellte die Flasche mit Schnaps darauf. Sie schielte zu der Hütte hinüber und meinte einen Schatten hinter dem Fenster ausmachen zu können. Dann war er weg. Sigbrit Holland drehte sich um und ging langsam den Weg zurück, den sie gekommen war. Sie hatte die Spitze des Hügels fast erreicht, als die Tür der Hütte sich öffnete und Harald Adelstensfostre in der Türöffnung erschien. Er sah Sigbrit Holland einen Augenblick hinterher, tat dann, als wäre nichts gewesen, und hob den Schnaps und den Brief auf: Danke, dass Sie mir das Leben gerettet haben. Oluf ist tot, Asta hat mich gebeten Sie zu grüßen.
Der Fischer Ambrosius würde ihre Lüge nicht billigen, dachte Sigbrit Holland. Aber in ihren Augen war es nicht gelogen, sondern zwei und zwei zusammengezählt, und sie hoffte mit dem Brief, die Neugier des Eremiten zu wecken. Ihre Hoffnung wurde jedoch sofort zunichte gemacht; sobald Harald Adelstensfostre den Brief gelesen hatte, verschwand er wieder in der Hütte. Sigbrit Holland zögerte kurz, dann atmete sie tief durch und ging den Hügel hinunter. Sie kam bis zur Gartenpforte, dann wurde die Tür aufgerissen und der Eremit kam herausgestürzt. Er schwang sein Schwert in der Luft und stieß wütende Rufe aus, und Sigbrit Holland zog sich eilends ein paar Schritte zurück. Dann noch ein paar und noch einen. Sie wollte sich gerade umdrehen und flüchten, doch dann biss sie die Zähne zusammen
und blieb stehen. Sie erinnerte sich, wie er sie gerettet hatte, und plötzlich wusste sie, woher er gewusst hatte, wie er ihre Wunden behandeln musste. Asta Adelstensfostre hatte doch erzählt, dass ihr Mann, Oluf, Arzt gewesen war, und nach den Erzählungen des Kaufmanns in Karlsund hieß das, dass Harald Adelstensfostre ebenfalls Medizin studiert hatte. Plötzlich war Sigbrit Holland überzeugt, dass der Eremit ihr kein Leid zufügen würde, und wich nicht weiter zurück, obwohl er mit seinem hocherhobenen goldenen Schwert auf sie zugestürmt kam.
Harald Adelstensfostre blieb verblüfft vor ihr stehen, das Schwert noch immer erhoben, aber in seinen Augen lag ein Ausdruck, der eher verwirrt als wütend war. Langsam ließ er den Arm sinken, während seine Augen ratlos flackerten. Dann machte er ohne ein Wort auf dem Absatz kehrt und ging zurück zu der Hütte. Er verschwand durch die Tür, schloss sie jedoch nicht hinter sich, und Sigbrit Holland beschloss, die offene Tür als Einladung zu betrachten.
Die Hütte war dunkel, aber überraschend gemütlich und ordentlich. An einer Wand des Wohnzimmers stand ein solider Esstisch aus Eichenholz mit vier Stühlen, und in der entgegengesetzten Ecke des Raums ein abgenutztes, aber sauberes Sofa mit bestickten
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