Odins Insel
will nicht mit uns reden. Mehr ist dazu nicht zu sagen. Die Herbststürme sind im Anmarsch, und außerdem gehen uns Proviant und Wasser aus.«
»Wir können doch in Karlsund neuen Proviant holen und zurückkommen. Dazu brauchen wir nicht einmal einen halben Tag.«
»Richtig und falsch.« Der Fischer lächelte. »Es geht nicht um den halben Tag, sondern um den Winter, der uns einschließen wird. Weder die Rikke-Marie noch wir sind für die Kälte hier oben gerüstet. Wie es aussieht, wird die Heimreise mehr als rau werden.«
Sigbrit Holland biss sich auf die Unterlippe. Sie dachte daran, wie der Eremit sie gerettet hatte.
»Er kann nicht so gefährlich sein«, sagte sie leise. »Sonst hätte er mich doch einfach ertrinken lassen.«
»Aber danach hat er uns wieder verjagt. Holde Frau, du musst den Tatsachen ins Auge sehen: Harald Adelstensfostre will nicht mit uns sprechen.« Der Fischer machte eine kurze Pause. »Morgen früh lichten wir die Anker«, sagte er leise. »Nein, bleib hier.« Er hielt sie fest, als sie aus der Koje kriechen wollte. »Glaubst du, dass du jetzt schlafen kannst?«
»Vielleicht.« Sigbrit Holland wollte, dass der Fischer sie küsste, aber sie wusste nicht, wie sie ihn darum bitten sollte. Dann fiel ihr etwas ganz anderes ein.
»Du hast nie auf meine Frage geantwortet«, flüsterte sie fast lautlos.
Der Fischer Ambrosius zögerte.
»Nein, wir haben nie auf deine Frage geantwortet.« Er stützte sich auf den Ellenbogen. »Ja«, nickte er. »Wir haben Brynhild Sigurdskaer einmal geliebt.«
Sigbrit Holland erstarrte, aber der Fischer hielt ihren Blick fest und fuhr ruhig fort: »Dreizehn lange Jahre haben wir Brynhild Sigurdskaer geliebt. Dann hörte die Liebe eines Tages auf. Brynhild Sigurdskaer ist eine Tochter der blauen Eisberge, eine Schwester der Sirenen. Sie sehnt sich nach der Wärme eines festen Hafens, aber sie hält sie nicht aus. Einen Liebhaber nach dem anderen verbrennt sie zu Asche, bis sie eines Tages einen trifft, der stärker ist als sie. Dann wird sie zu nichts zerschmelzen. Ihr Schicksal ist das, was die alten Frauen ewige Sehnsucht nennen; sie lebt nur, so lange sie sich erinnert, dass das, wonach sie sich sehnt, die Macht hat, sie zu zerstören.«
»Was ist passiert?«, flüsterte Sigbrit Holland.
»Eines Tages erwachten wir und wussten, dass Brynhild Sigurdskaer nicht für uns geschaffen war.« Der Fischer suchte im Dunkeln nach Sigbrit Hollands Gesicht. »Siehst du, holde Frau, die Menschen sind aus verschiedenen Stoffen gemacht. Wenn zwei aus dem Gleichen geschaffen sind, wird die Liebe entweder beide zerstören oder zu einem zusammenschmelzen. Ist man nicht aus dem gleichen Stoff geschaffen, wird man eines Tages weiterziehen.« Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und sah ihr direkt in die Augen. »Brynhild Sigurdskaer und wir sind aus verschiedenen Stoffen gemacht.«
Sigbrit Holland atmete tief durch.
»Es ist mehr als das, nicht wahr?«
Der Fischer Ambrosius ließ ihr Gesicht los und sah einen Augenblick in die Luft.
»Da war ein Kind«, sagte er langsam mit ferner Stimme. »Da war ein Kind, und das Kind starb.« Er räusperte sich. »Sie hieß Embla, und sie starb, als sie vier Jahre alt war. Sie starb, weil eine Demonstration außer Kontrolle geraten war. Sie und ihre Mutter fielen und wurden niedergetrampelt. Brynhild Sigurdskaer hat versucht, unsere Tochter zu beschützen, aber sie konnte es nicht.« Der Fischer seufzte. »Seitdem kann sich Brynhild Sigurdskaer
nirgendwo aufhalten, wo Menschenmassen sind oder wo Gewalt wütet.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass Brynhild Sigurdskaer vor irgendetwas Angst hat!«
»Wenn du nichts mehr zu verlieren hast, hast du nur davor Angst, daran erinnert zu werden, was du verloren hast.«
Sigbrit Holland senkte den Blick.
»Wir haben nicht zusammengewohnt, so ist es nicht gewesen«, fuhr der Fischer fort, als würde er mit seinen Worten nach ihr greifen. »Brynhild Sigurdskaer wollte ein Kind, keinen Mann, zumindest nicht uns. Jedenfalls ist es lange her. Seit mehr als zehn Jahren sind wir nur noch Freunde. Freunde und Eltern, vereint allein im Verlust.«
Sigbrit Holland sagte nichts mehr, sondern hob die Hand und streichelte das Gesicht des Fischers. Der Fischer Ambrosius legte sich zurück auf das Kissen und schloss die Augen. Sigbrit Holland betrachtete ihn einen Augenblick, dann beugte sie sich über ihn und küsste ihn leicht auf den Mund.
»Ich habe gewartet, dass du kommst«, flüsterte er und legte
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