Odins Insel
des lauwarmen Kaffees aus der Thermoskanne ein.
»Es muss ja nicht so lange dauern. Vielleicht finden wir früher etwas und brauchen nicht alle durchlesen.«
Der Fischer legte das Messer weg und griff nach ihrer Hand. »Vielleicht, vielleicht nicht. Holde Frau, du wirst einsehen müssen, dass wir, wenn wir noch ein paar Tage hier bleiben, leicht riskieren, dass die Witterung für die Rikke-Marie zu stürmisch wird, und dann müssen wir hier überwintern.«
Sigbrit Holland befreite heftig ihre Hand.
»Monate haben wir nach diesen Büchern gesucht«, rief sie.
»Und jetzt, wo wir sie endlich gefunden haben, sagst du nur: Es tut mir Leid, wir haben keine Zeit. Die Wetteraussichten sind zu schlecht.«
Der Fischer nahm das Messer und schälte ruhig weiter Kartoffeln.
»Holde Frau«, sagte er sanft. »Wir müssen es so gut machen, wie wir können. Aber morgen müssen wir fahren. Nicht nur, dass der Winter uns langsam einschließt, wir haben auch ein paar weniger gute Nachrichten im Radio gehört, während du weg warst.« Er holte drei Teller heraus und stellte sie auf den Mahagonitisch. »Am frühen Nachmittag haben gut dreihundert nordnordische Wahre Christen in privaten Booten die Meerenge überquert und die Wiederauferstandenen Christen in Fredenshvile angegriffen. Es hat viele Tote und Verletzte gegeben.« Er schüttelte den Kopf. »Die Regierung hat erklärt, dass sie in Erwägung zieht, die Meerenge zu schließen.«
»Aber das können sie doch nicht machen!«, rief Sigbrit Holland. »Es müssen sehr viele Schiffe sein, die sie jeden Tag passieren müssen. Und was ist mit den Ländern am Inneren Meer?«
»Ja, es sind täglich mehr als hundert, ohne Fähren und Segelboote«, sagte er leise. »Sie werden sie wohl erst für kleinere Boote schließen, während die Frachtschiffe weiter hindurchfahren dürfen.« Der Fischer Ambrosius lächelte grimmig. »Aber wir befürchten, dass die alte Rikke-Marie nicht als Frachtschiff angesehen werden wird.«
Sigbrit Holland ließ sich auf die Bank fallen.
»Das heißt, dass …«
»Ja«, unterbrach sie der Fischer. »Wenn es uns nicht gelingt, Odin zurück auf die Insel zu bringen, bevor der Verkehr in der Meerenge eingeschränkt wird, ist nicht sicher, ob es lange Zeit nicht unmöglich sein wird.«
Sigbrit Holland sah zu Odin hinüber, der am Ende des Tisches saß und schlummerte.
»Es gibt nur eine Möglichkeit«, sagte sie schließlich und richtete den Blick wieder auf den Fischer. »Wir müssen die Bücher mitnehmen!«
Es schien kein Mond, und das Dunkel war dicht und undurchdringlich, als Sigbrit Holland zum dritten Mal an diesem Tag über den Hügel ging. Sie beeilte sich und lief, so schnell sie das im Schein des gelben Kegels der Taschenlampe konnte. Der feuchte salzige Wind fühlte sich auf ihren Wangen wie Eis an, und obwohl sie die Jacke am Hals zusammenhielt, bewirkte sie nicht viel gegen die raue Kälte. Der Fischer Ambrosius hatte Recht: Der Winter war im Anmarsch. Harald Adelstensfostre öffnete die Tür in dem Moment, als sie klopfte. Er musste das Licht gesehen haben. Ohne ein Wort des Willkommens trat er zurück und ließ sie herein. Das Wohnzimmer wurde von zwei Öllampen beleuchtet, die beidseits eines aufgeschlagenen Buchs auf dem Tisch standen. Als sie näher trat, sah sie, dass es eines der Tagebücher des Kapitäns war. Sie drehte sich um und schaute dem Eremiten direkt in die Augen.
»Es dauert zu lange«, sagte sie leise und erklärte, was der Fischer ihr gesagt hatte. Dann zeigte sie auf das Buch. »Dürfen wir sie mitnehmen?«
Harald Adelstensfostre ging zum Fenster hinüber und sah lange in die Dunkelheit auf das unsichtbare Meer hinaus. Es vergingen mehrere Minuten, dann drehte er sich langsam um, und irgendetwas in seinem Gesicht schien sich verändert zu haben.
»Platz?«, fragte er und zeigte in Richtung der Badebrücke mit dem grün-orangenen Fischerboot.
»Ja«, lächelte Sigbrit Holland. »Ja, es ist reichlich Platz für Sie und Ihre Bücher.«
»Eine Insel ist eine Insel, bis sie nicht länger eine Insel ist. Wenn Könige ihre Namen auf Papier schreiben, schweigen die Untertanen still. Erwähne die Insel und die Hölle bricht los« , wiederholte der Fischer Ambrosius langsam.
Brynhild Sigurdskaer nickte. Sie hatten sie kurz nach ihrer Ankunft in Karlsund in dem Kaufmannsladen getroffen, und nun saßen alle im Steuerhaus der Rikke-Marie.
»Alle drei besagen das Gleiche. Das Gleiche, und doch sagt jeder für sich etwas
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