Odins Insel
schien sich unendlich weit über das blau-grüne Meer zu erstrecken. Unter den Fenstern waren bis auf eine Stelle, an der ein zierlicher dunkler Schreibtisch mit einem Durcheinander dekorativer Schnitzereien stand, eine Reihe exotisch aussehender Holz- und Metallkisten gestapelt. Auf jeder Seite des Schreibtisches standen zwei gleich hohe Stühle, ebenfalls aus dunklem Holz. Harald Adelstensfostre zeigte auf einen, und Sigbrit Holland setzte sich. Dann hob er, ohne zu überlegen, eine kleine primitive Holzkiste hoch und trug sie quer durch den Raum und stellte sie neben den Tisch. Er öffnete das Schloss und holte ein Buch heraus, dann noch eins und noch eins. Er legte die Bücher vor Sigbrit Holland auf den Tisch und holte noch weitere heraus. Als die Kiste leer war, lagen zwölf Bücher auf dem Tisch. Sigbrit Holland nahm
das erste. Es war eine Fahrwasserbeschreibung der Flachen Länder, die sie bereits in einer anderen Version in den Spezialarchiven des Land- und Katasteramtes gesehen hatte. Auf der ersten Seite stand in einer umständlichen Schrift ein Name: Kapitän Hans Adelstensfostre. Sigbrit Holland lachte auf vor Freude. Sie griff nach dem nächsten Buch. Es war eine Bibel, die fast auseinander fiel. Das dritte war ein Astronomiebuch von Tycho Brahe, und ein weiteres war von Kopernikus.
»Ein belesener Kapitän«, murmelte Sigbrit Holland, dann stieß sie einen Schrei aus – das Buch, das sie in der Hand hielt, ein in blaues Leder gebundenes Notizbuch, war in derselben umständlichen Schrift beschrieben, die sie vor kurzer Zeit gesehen hatte. Die erste Seite war herausgerissen, aber sie hatte keine Zweifel: Das war Kapitän Hans Adelstensfostres Tagebuch. Es gab ein weiteres Buch mit blauem Ledereinband, und weiter unten in dem Stapel fand sie drei Bücher mit Frachtverzeichnissen. Aber es gab keine Karte und keine Zeichnungen. Sie fragte den Eremiten, aber er schüttelte nur den Kopf. Man konnte nichts anderes tun, als alles durchlesen.
Sigbrit Holland schlug die erste Seite des ersten Tagebuchs auf: 20. März 1612, nach Fiordenhaffn … mehr konnte sie nicht lesen. Lange sah sie auf den Satz, dann gab sie auf und schob das Buch zu dem Eremiten hinüber. Er hatte das Tagebuch offenbar schon einmal gelesen, denn er brauchte nur einen Moment, um die Worte zu entziffern.
»Nach Fiordenhaffn mit einer Ladunge Getreides. Der Wind ist in einem gewaltigen Sturme nordwestwärts umgeschlagen, dasß wir die Segel einholen mussten.« Der Eremit las weiter, aber Stil und Rechtschreibung des Kapitäns waren holperig und mischten Worte aus allen nordischen Sprachen, und je eiliger der Kapitän seine Notizen niedergeschrieben hatte, desto langsamer kamen sie voran.
Erst spät am Nachmittag, als die Dämmerung hereinbrach und sie die Buchstaben nicht länger unterscheiden konnten, hörten sie auf. Sigbrit Holland eilte zurück zu dem grün-orangenen Fischerboot und erzählte Odin und Ambrosius von dem Inhalt der dreieinhalb Seiten, die der Eremit hatte entziffern können.
Die Notizen hatten sich ausschließlich auf eine Fahrt nach Fjordenhavn bezogen und auf die Gedanken des Kapitäns zu Wind und Wetter und zu den Geschäften, die in Fjordenhavn und unterwegs getätigt werden konnten, aber Sigbrit Holland war sicher, dass sie auf der richtigen Spur waren. Zu ihrer Enttäuschung teilte der Fischer Ambrosius ihren Enthusiasmus nicht.
»Holde Frau, wie viele Seiten hat jedes Tagebuch, hast du gesagt? «, fragte der Fischer, während er eine Dose Schinken öffnete und den Inhalt auf ein Schneidebrett leerte.
»Fünfzig, vielleicht sechzig.«
»Und wie viele jedes Frachtbuch?«
»Mehr oder weniger genauso viele.«
»Hm.« Der Fischer schnitt den Schinken in dünne Scheiben und sah dann auf. »Sagen wir mal, dass jedes der fünf Bücher ungefähr fünfzig Seiten hat. Und für dreieinhalb Seiten habt ihr fast den ganzen Tag gebraucht.« Der Fischer Ambrosius goss die gekochten Kartoffeln ab und begann sie zu schälen. »Mit der Geschwindigkeit braucht ihr über zwei Monate, um alle Bücher durchzugehen.«
»Es geht schneller, wenn wir uns an die Schrift gewöhnt haben. Und vielleicht können Odin und du helfen.«
»Dann wird es noch immer mindestens einen Monat dauern, holde Frau, und du weißt sehr gut, dass wir bereits vor mehreren Tagen hätten abreisen sollen. Wir müssen weiter nach Süden kommen. Wir haben schon Mitte Oktober.«
Sigbrit Holland nahm eine Tasse aus dem Schrank und schenkte sich den letzten Rest
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