Odins Insel
Abschriften von Kapitän Hans Adelstensfostres Tagebüchern und Frachtbüchern noch einmal durchgelesen, ohne einen Hinweis auf die Einfahrtsroute zu der Insel zu finden, und ein ums andere Mal hatte sie still die fünf Sprüche wiederholt, ohne dem Wortlaut der letzten beiden das kleinste bisschen näher zu kommen.
Das grüne Fischerboot, das einmal grün-orange gewesen war, bog in den Firökanal ein, und Nervosität breitete sich im Steuerhaus aus. Aber sie hätten sich keine Sorgen zu machen brauchen. Der Fremdling und Gunnar der Kopf hatten getan, worum sie gebeten worden waren – die beiden großen Pforten der stillgelegten Schiffshalle standen weit offen. Der Fischer Ambrosius schaltete den Motor der Rikke-Marie aus, und das Fischerboot glitt lautlos in sein Versteck. Die Schiffshalle war dunkel, es bestand kein Grund, durch das Anzünden von Licht die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und die Fenster im Dach waren nicht groß genug, um das Licht des Mondes oder der Stadt hereinzulassen. Als die Rikke-Marie sicher vertäut war, schlossen der Fremdling und Gunnar der Kopf die Pforten, und kurz darauf verschwanden sie in der Nacht. Der Fischer Ambrosius verschloss hinter ihnen die Tür.
»Manchmal muss ich einfach daran denken, ob es für Odin und sein Pferd nicht besser gewesen wäre, wenn er die Insel nie verlassen hätte«, sagte Sigbrit Holland zu dem Fischer, der sich nach der Kälte draußen schüttelte und den Kessel aufsetzte. Sie waren allein im Steuerhaus, Odin und Harald Adelstensfostre waren in ihre Kojen gegangen. Der Fischer Ambrosius nickte langsam.
»Und wenn Odin nicht gekommen wäre«, fuhr Sigbrit Holland fort, »wäre Südnorden nicht voller streitender Weltuntergangspropheten und in einen Konflikt mit Nordnorden verwickelt. «
»Vielleicht, vielleicht nicht«, sagte der Fischer Ambrosius und zog sie näher an sich heran. »Aber das Leben besteht nicht aus was wäre wenn , sondern aus was ist . Es ist schon möglich, dass viele Wenns zu dem gleichen ist führen können, aber es ist sicher, dass kein Wenn das ändern kann, was ist.« Er lächelte und küsste ihre Augenlider. »Und, holde Frau, was ist , sind du und ich.«
»Nicht mehr lange«, murmelte Sigbrit Holland.
Der Fischer Ambrosius setzte sich auf.
»Da irrst du dich«, sagte er rau und nahm Sigbrit Hollands Gesicht in seine Hände. »Was ist, ist immer. Alles andere hat keine Bedeutung.«
Sigbrit Holland nickte mutlos und wechselte das Thema. »Wir brauchen Geld für die Taucherausrüstung«, sagte sie.
»Ja«, lächelte der Fischer. »Wir brauchen Geld, und zwar Geld, das wir nicht haben.«
»Aber das Geld von Fridtjof für meinen Teil des Hauses muss auf meinem Konto sein«, rief Sigbrit Holland. »Ich weiß nicht genau wie viel, aber das werde ich schon herausfinden, wenn ich morgen mein Postfach öffne. So eine Taucherausrüstung kann doch nicht so teuer sein.«
»Teurer als man glauben sollte, holde Frau.«
Sigbrit Holland gähnte.
»Komm, lass uns schlafen. Wir klären das morgen«, sagte der Fischer Ambrosius, aber trotz ihrer Müdigkeit konnte Sigbrit Holland nicht einschlafen.
»Was ist mit Bramsentorpf?«, fragte sie nach einer kurzen
Pause in die Stille hinein.
»Das ist weiterhin Sache der Regierung. Wir können Odins Bedingung, wonach die Regierung erst ihren Anspruch auf die Insel aufgeben muss, bevor er sich zeigt, nicht widerrufen. Es wäre auch zu gefährlich, jetzt bereits jemanden wissen zu lassen, dass wir im Lande sind.« Der Fischer hustete leicht. »Scheinbar hat es jetzt einige Zeit keine neuen Drohungen seitens der Geiselnehmer mehr gegeben, und das bedeutet wohl, dass sie Bramsentorpf entweder schon umgebracht haben oder es nicht tun werden, ungeachtet was passiert.«
»Und die Weltuntergangspropheten?«
»Es gibt nicht viel, was wir gegen sie unternehmen können. Ausgenommen uns zu versichern, dass sie nicht herausbekommen, wie wir zu der Insel kommen.«
Am nächsten Morgen stand Sigbrit Holland früh auf und verließ die Schiffshalle, ohne den Fischer Ambrosius zu wecken. Sie ging schnell das kleine Stück Weg zur Firöbrücke und nahm den Bus über die Brücke nach Fredenshvile hinein. Die Hauptstadt war nicht wiederzuerkennen. Trotz des Weihnachtsschmucks in Straßen und Geschäften und trotz der Weihnachtslieder, die aus den Lautsprechern der Fußgängerzone plärrten, ähnelte Fredenshvile einer Stadt im Belagerungszustand. Überall hingen Spruchbänder und Plakate mit
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