Odins Insel
Weltuntergangsprophezeiungen. An jeder zweiten Straßenecke standen Gruppen in seltsamen Trachten und verteilten Broschüren und versuchten Leute für ihre Sache anzuwerben oder riefen den verzagten Passanten Unheil verkündende Prophezeiungen zu. Viele Geschäfte waren geschlossen, ohne dass neue an ihre Stelle getreten wären, und viele der noch vorhandenen Geschäfte hatten sich entschlossen, ihre Fenster durch Drahtgitter oder rohe, vor der Fassade angebrachte Holzplanken zu schützen. Die Leute eilten aneinander vorbei, ohne aufzusehen, und niemand, weder Kind noch Erwachsener, blieb vor den ausgestellten Waren oder den wenigen Weihnachtsdekorationen stehen. Alle schienen zu fürchten, dass bald etwas Furchtbares passieren würde, auch wenn man nicht wusste, was oder wie man es aufhalten könnte.
Sigbrit Holland betrat das Hauptpostamt und öffnete ihr Postfach, das sie für die Zeit, die sie weg gewesen war, eröffnet hatte. Sie schaufelte die ganze Post in eine große Plastiktüte und nahm sie mit in ein Café an der nächsten Straßenecke. Sie suchte sich einen Tisch, setzte sich und bestellte eine Tasse Kaffee. Sie schüttelte den Inhalt der Tüte auf den Tisch und sortierte die Briefe schnell in zwei Stapel; offizielle Briefe auf den einen und private auf den anderen. Zwei Briefe öffnete sie sofort, die Scheidungspapiere und die Kaufurkunde des Hauses, von dem ihr Fridtjof ihren Anteil überwiesen hatte. Sie unterschrieb beide Papiere zügig und rechnete dann nach, wie hoch die Summe wohl sein würde – es war nicht viel. Sigbrit Holland ging den Stapel offizieller Briefe durch und fand ihren letzten Kontoauszug. Das begrenzte Sparguthaben, das sie gehabt hatte, als sie abgereist war, sowie ihr letztes Gehalt von der Bank waren längst aufgebraucht, und der Saldo bewegte sich im Minus. Es gab keinen Grund, die Sache schönzureden – sie besaß nur noch ein Teil, das sie verkaufen konnte, ihr Auto.
Obwohl es Es (alias Esra) zuerst geschaudert hatte, hatte er nicht protestiert, als die Rächer nach drastischeren Maßnahmen verlangt hatten. Und obwohl Es (alias Esra) langsam tiefer in die Sache verwickelt wurde, als ihm lieb war, konnte er nichts daran ändern. Die Situation war noch nicht reif für seinen Absprung; sein kleiner Bruder war noch immer nicht in die Falle gegangen, die seinen Betrug und seine Dummheit aufdecken sollte. Deshalb schluckte Es (alias Esra) seinen Abscheu hinunter und dachte sich ein paar gewalttätige Aktionen aus – wie das Zerstören von Geschäften, die Immigranten gehörten oder beschäftigten, direkte Angriffe auf die Weltuntergangsprophetengruppen sowie einen richtiggehenden Kreuzzug gegen Weihnachten, das keine echte südnordische Tradition war.
Doch bevor Es (alias Esra) der verlorene und meistgeliebte Sohn werden konnte, gab es eine Aufgabe, die ausgeführt werden musste, und sie war der Grund, dass Sigbrit Holland unabsichtlich Zeugin wurde, wie ein orientalisches Geschäft in Grund und Boden gesprengt wurde. Von einem zum anderen
Augenblick schien das Geschäft mit einem enormen Knall von der untersten Etage des alten Backsteingebäudes auf die Straße zu rücken, wo sich brennende Früchte und Gemüse mit zermatschten Broten, kaputtgerissenen Waschpulverpackungen, Blut und abgetrennten Gliedern des orientalischen Kaufmanns und seiner Frau sowie zwei unglücklichen Kunden mischten. Wir wollen keinen moslemischen Schmutz in unseren Straßen, stand auf einem dreckigen handgeschriebenen Zettel, den die Polizei später im Hinterzimmer des ausgebombten Geschäftes nicht weit von einem Taschentuch mit den Initialen von Hesekiel, dem Rechtschaffenen, fand. Diesmal fackelte die Polizei nicht lange, sondern versuchte, den jungen Hesekiel umgehend in Gewahrsam zu nehmen – aber der junge Hesekiel war längst untergetaucht.
Doch all das wusste Sigbrit Holland nicht, als der Knall ertönte und die Druckwelle sie umwarf, während das Geschäft auf die Straße geblasen wurde und überall spitze Schreie ertönten. Polizei und Ambulanz waren da, fast bevor sie wieder auf die Beine gekommen war. Ein Feuerwehrmann kam zu ihr und fragte, ob sie Hilfe brauchte. Aber Sigbrit Holland versteckte schnell ihre leicht verletzte linke Hand in der Manteltasche und überzeugte ihn davon, dass ihr nichts fehlte. Und in der Verwirrung schlich sie sich schnell fort und verschwand unter den herbeigeströmten Zuschauern. Sie konnte es nicht riskieren, als Zeugin registriert zu
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