Odins Insel
Gestalt vor sich, und mit unerwarteter Entschlossenheit beugte sie sich hinunter, riss Odin von dem Eis los und trug ihn zu ihrem Auto, wo sie ihn quer auf den Hintersitz legte. Dann setzte sie sich auf den Vordersitz und fuhr Richtung Süden zurück in die Stadt.
Als sie das Krankenhaus erreicht hatten, war das Eis so weit geschmolzen, dass Odin seine Gliedmaßen bewegen konnte. Er war noch immer nicht in der Lage zu sprechen, konnte aber wenigstens ohne Hilfe aus dem Auto steigen. Sigbrit Holland führte ihn in ein gelbes Backsteingebäude und eine Flut von Licht. Sie gingen durch einen schmalen Korridor, in dem Ärzte und Krankenschwestern hin und her eilten, ohne sie zu beachten. Sigbrit Holland biss sich irritiert auf die Lippe, sie musste den falschen Eingang gewählt haben, doch nach einigen Minuten gelang es ihr, einen Krankenpfleger anzuhalten und sich den Weg zur Ambulanz zeigen zu lassen. Sie und Odin gingen durch noch mehr Korridore, dann traten sie in ein großes Wartezimmer.
Den meisten im Zimmer schien es wirklich nicht gut zu gehen, und Odin schüttelte sich vor Unbehagen. Er war sich nicht sicher, was er hier sollte, aber die freundliche Frau zeigte auf einen Stuhl, und da er im Moment keine Alternativen hatte, setzte er sich. Er musste sich unter allen Umständen gut mit ihr stellen, wenn sie ihm helfen sollte, den Veterinär für Rigmarole zu finden.
Eine Krankenschwester kam zu ihnen und fragte, was ihm fehlte. Sie sah Odin fragend an, aber es war Sigbrit Holland, die antwortete.
»Ich hätte diesen Mann beinahe überfahren«, sagte sie schnell. »Und er sah aus, als würde er sich zu Tode frieren, deshalb hielt ich es für besser, ihn hierher zu bringen.«
»Wie heißt er?«, fragte die Krankenschwester.
»Das weiß ich nicht.« Sigbrit Holland schüttelte kurz den Kopf. »Ich weiß nicht, ob er kein Südnordisch versteht oder
ob er so lange in der Kälte war, dass er nicht mehr sprechen kann.«
Es gelang Odin zu Letzterem zu nicken, aber nur Sigbrit Holland bemerkte es, denn die Krankenschwester hatte sich bereits einem anderen Patienten zugewandt, der gerade hereingebracht wurde. Der Patient blutete kräftig aus einigen tiefen Wunden in Gesicht und Brust und wurde auf einer Bahre getragen. Odin gefiel dieser Ort überhaupt nicht.
Kurz darauf kam die Krankenschwester zurück und stellte noch weitere Fragen, die Sigbrit Holland mit zunehmender Ungeduld beantwortete, während Odin bekümmert den blutenden Patienten betrachtete. Nein, sie wusste nicht, ob er eine Versicherungskarte oder einen Personalausweis hatte. Der blutende Patient wurde den Gang hinuntergebracht und war nicht mehr zu sehen. Ihr Name war Sigbrit Holland, ein wenig widerwillig nannte sie ihre Telefonnummer und ihre Adresse. Dann gab die Krankenschwester Odin ein Zeichen, ihr zu folgen. Odin erhob sich, und das geschmolzene Eis tropfte an ihm herunter. Wo er gesessen hatte, war ein kleiner See, und jeder Schritt hinterließ eine neue Wasserpfütze auf dem Boden. Plötzlich musste Sigbrit Holland lächeln.
»Ich muss jetzt gehen«, sagte sie. »Aber hier wird man sich um alles kümmern.«
»Danke«, antwortete Odin froh. Jetzt verstand er endlich, warum die Frau ihn mit hierher genommen hatte. Er fragte, wo er warten konnte, bis der Veterinär für Rigmarole kommen würde. Aber seine Stimme trug nicht.
Sigbrit Holland sah nur, wie der Mund des kleinen alten Mannes sich öffnete und schloss wie der eines Fisches, der nach Luft schnappt. Sie sah auf ihre Uhr und zögerte unentschlossen. Man würde sich um ihn kümmern, sagte sie sich, und hatte sie nicht bereits mehr als genug getan? Sie konnte auf keinen Fall hier bleiben; ihr Mann hatte den Hörer aufgelegt, bevor sie eine Möglichkeit gehabt hatte, ihm die Situation zu erklären.
»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Man wird alles für Sie tun, was man kann«, sagte sie, und auf eine plötzliche Eingebung hin schrieb sie ihre Telefonnummer auf einen Zettel
und steckte ihn in Odins nasse Hand. »Wenn es Probleme geben sollte …«
Odin folgte der Krankenschwester durch einen kurzen Korridor in ein Behandlungszimmer, wo er gebeten wurde, sich hinzulegen und zu warten, bis der Arzt kam. Als er alleine war, sah er auf die Zahlen, die Sigbrit Holland ihm gegeben hatte. Er stellte Überlegungen an, was sie bedeuteten. Vielleicht war es eine Art Geheimsprache, die auf dem Kontinent benutzt wurde, oder die Zahlen gaben die Richtung oder die Position an, wo der
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