Odins Insel
Richtung auf der Fahrbahn. Sigbrit Holland
schloss die Augen und atmete tief durch. Ihre Finger trommelten nervös auf das Lenkrad. Sie war zu schnell gefahren, das wusste sie; außerdem war sie mit ihren Gedanken woanders gewesen. Aber was dachte er sich auch dabei! Bei diesem Wetter und zu dieser Zeit mitten auf der Straße zu gehen? Glücklicherweise war kein Verkehr. Einen Augenblick erwog sie, einfach nach Hause zu fahren, aber wer immer das da draußen war, er verdiente etwas Besseres, als sich zu Tode zu frieren. Sie startete das Auto und fuhr auf die Seite.
Sigbrit Holland schlüpfte in ihren Mantel und stieg aus dem Auto. Schneeflocken wirbelten ihr in die Augen, und einige Sekunden sah sie nichts. Sie trocknete sich das Gesicht mit den behandschuhten Händen, konnte aber nicht weiter als ein paar Meter sehen.
»Hallo, hallo, ist Ihnen etwas passiert?«, rief sie und wischte sich wieder Schnee aus den Augen. Sie erhielt keine Antwort, ging ein paar Schritte weiter und rief noch einmal. Aber wieder bekam sie keine Antwort als den wirbelnden Schnee. Sie ging weiter den Weg entlang, doch es gab nicht das geringste Zeichen, dass ein anderes lebendes Wesen in der Nähe war. Vielleicht hatte sie sich geirrt, oder es war nur ein Tier gewesen, das bereits auf und davon war. Oder vielleicht hatten Müdigkeit und Schneefall ihr alles nur vorgegaukelt. Sigbrit Holland rief ein letztes Mal, dann gab sie auf und kehrte um und war fast wieder bei ihrem Auto, als sie im wahrsten Sinn des Wortes über ihn fiel.
»Entschuldigung«, rief sie und griff nach der Schulter des Mannes, unmittelbar bevor er das Gleichgewicht verlor.
Wie klein er ist, dachte sie, kaum größer als ein Meter zwanzig, sichtlich mager unter den vielen Schichten Kleidung und von Kopf bis Fuß mit Schnee und Eis bedeckt. Es war ein Wunder, dass er noch auf den Beinen stehen konnte.
»Ich habe Sie doch nicht etwa angefahren?«, fragte sie mit aller Freundlichkeit, die sie aufbringen konnte.
Der kleine alte Mann antwortete nicht, sondern starrte sie nur an – ja, jetzt sah sie es –, er hatte nur ein Auge. Er war dunkelhäutig, ein Einwanderer aus dem Süden, schätzte sie. Sigbrit
Holland biss sich irritiert auf die Unterlippe. Warum musste ihr das gerade heute Abend passieren?
»Wo wollen Sie hin?«, fuhr sie fort, aber es kam noch immer keine Antwort von dem kleinen alten Mann. Sie versuchte es in einer anderen Sprache: »Do you speak Südnordisch?«
Der kleine alte Mann starrte sie nur weiter an, offensichtlich ohne die geringste Absicht, ihr zu antworten.
Doch Odin hatte jede Absicht der Welt ihr zu antworten. Er wollte der freundlichen Frau erzählen, dass es ihm – von dem bisschen Kälte in Mark und Bein vielleicht einmal abgesehen – ausgezeichnet ging, dass es mit Rigmarole jedoch ganz anders aussah und dass er so bald wie möglich den Veterinär finden musste und ob die Frau, wenn es nicht zu viel Mühe machte, wohl so freundlich sein könnte, ihm etwas genauer zu sagen, wo er am besten nach ihm sah. Doch Odin konnte den Mund nicht öffnen. So sehr er sich auch bemühte, seine Lippen lösten sich nicht voneinander; der Frost hatte sie versiegelt.
Sigbrit Holland sah auf ihre Uhr. Wenn sie sich beeilte, würde sie noch immer einigermaßen pünktlich sein.
»Wenn Sie mir sagen, wohin Sie wollen, kann ich Sie hinfahren«, sagte sie und zwang ein Lächeln auf ihre Lippen, während sie sich ungeduldig ein paar lange dunkle Haarsträhnen aus dem Gesicht strich.
Die freundliche Frau schien es eilig zu haben. Sie bot ihm Hilfe an, und doch schien sie bereits ganz woanders zu sein. Odin dachte, dass er sie lieber gehen lassen sollte, aber er hatte keine Möglichkeit, ihr das zu sagen. Er versuchte die Hand zu heben, um auf seinen Mund zu zeigen. Aber auch seine Arme waren durch das Eis, das seinen ganzen Körper umgab, festgefroren. Doch plötzlich schien die Frau seine Situation von selbst zu verstehen. Sie nickte und zeigte auf ein sonderbar aussehendes Fahrzeug, und Odin wäre ihren Anweisungen mehr als gern gefolgt, doch hatte er, während sie still gestanden hatten, den letzten Rest seiner Beweglichkeit verloren – seine Beine waren an der Erde festgefroren.
Sigbrit Holland überdachte die Situation. Sie wünschte, sie könnte in ihr Auto kriechen und wegfahren und alles vergessen.
Aber egal wie eilig sie es hatte, sie konnte den alten Mann nicht in dieser Verfassung zurücklassen. Sie sah auf ihre Uhr, sah auf die verfrorene
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