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Odins Insel

Odins Insel

Titel: Odins Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janne Teller
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Gefolge. Die Menge der Demonstranten wuchs nur noch weiter an, und die aufgeheizte Stimmung wandte sich in zunehmendem Maße gegen die Regierung, die viele als den eigentlich Verantwortlichen für die Inhaftierung des Großen Mannes ansahen. Es war offensichtlich nur eine Frage der Zeit, bis die Unruhen eskalierten, sodass der Staatsminister die einschlägigen Minister am Donnerstagmorgen zu einem Krisentreffen einberief.
    »Wie gehen wir weiter vor?« Der Staatsminister sah den Justizminister an, der unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte.
    »Der Polizeidirektor hatte versprochen, die Identität des kleinen alten Mannes bis Montagabend aufdecken zu können, aber es ist ihm noch immer nicht gelungen. Der Mann ist weder hier noch in einem anderen europäischen Zentralregister erfasst. Die Polizei hat Kontakt zu ihren Kollegen in aller Welt aufgenommen. Aber bisher waren alle Bemühungen erfolglos.«
    »Kurz und gut, wir sind soweit wie vorher!« Der Staatsminister knickte umständlich seinen rechten kleinen Finger, bevor er fortfuhr: »Die Situation ist sehr ernst, das wissen wir alle. Obwohl die ganze Angelegenheit lächerlich erscheint, sorgt sie nicht nur für bedeutende Störungen der öffentlichen Ruhe und Ordnung, sondern – was sehr viel wichtiger ist – sie gibt der Opposition die Möglichkeit, die Aufmerksamkeit von den Verhandlungen über die Finanzgesetzgebung wegzulenken und stattdessen den Eindruck entstehen zu lassen, dass wir das Land nicht unter Kontrolle haben. Es werden Fragezeichen bei der Flüchtlingsgesetzgebung gesetzt werden, und selbst wenn wir möglicherweise nichts dagegen einzuwenden haben, sie zu verschärfen, sollte nicht der Eindruck entstehen, dass wir uns auf Grund des Drucks der Opposition dazu gezwungen sehen.« Der Staatsminister sah seine Kollegen der Reihe nach an und zog noch einmal an seinem kleinen Finger. »Darf ich um Ihre Vorschläge bitten? «

    Einen Augenblick herrschte Stille, dann lehnte sich die Kirchenministerin vor. »Ich glaube, dass wir ein wenig überreagieren«, begann sie. »Fakt ist: ein kleiner alter Mann ist aus dem Nichts aufgetaucht. Der Mann behauptet, vom Himmel auf eine Insel in der Meerenge gekommen zu sein, von der nie jemand etwas gehört hat. Er behauptet, dass er am 26. Dezember von dieser unbekannten Insel aus über das Eis der Meerenge, das den Experten zufolge nur mit sehr viel gutem Willen einen Menschen tragen kann, nach Südnorden marschiert ist. Der kleine alte Mann spricht fließend Südnordisch, trotzdem kann ihn niemand identifizieren, und sein Name ist nirgendwo erfasst. Ich glaube, wir müssen der Frage der himmlischen Herkunft, der unbekannten Insel und der Wanderung über das Wasser nicht weiter nachgehen – das können wir getrost den Frommen überlassen…« Ihre Kollegen lachten. »Und trotz des dunklen Teints des Mannes muss er entweder aus Südnorden kommen oder einen großen Teil seines Lebens hier im Land verbracht haben; unsere Sprache ist nicht so leicht zu lernen. Dass er nicht unter dem Namen Odin Odin registriert ist, muss nicht notwendigerweise bedeuten, dass er überhaupt nicht registriert ist. Es bedeutet nur, dass sein eigentlicher Name anders lautet als der, den er den Behörden angegeben hat. Das ganze Tralala lässt sich gut und gerne auf den Fall eines verstörten alten Mannes herunterkochen, der eine seltsame Geschichte erfunden und einen erdichteten Namen angenommen hat.«
    Der Staatsminister lächelte zufrieden.
    »Bravo. Bravo! «, sagte er und wandte sich in leicht ironischem Ton dem Justizminister zu. »Jetzt müssen wir nur noch den richtigen Namen des Mannes herausbekommen, und all unsere Probleme sind gelöst.«
    »Aber wenn niemand den Mann wiedererkennt, wie kann die Polizei dann seine wahre Identität feststellen?«, fragte der Innenminister.
    »Fingerabdrücke, Zähne, was weiß ich! Die Polizei hat da ihre Methoden«, erwiderte der Staatsminister unwirsch und zog an seinem linken kleinen Finger.
    Der Justizminister wollte gerade einwenden, dass die Polizei
all das bereits versucht hatte, aber ein einziger Blick in das Gesicht des Staatsministers ließ ihn verstummen. In einigen Tagen würde die Sache sich bestimmt von selbst erledigt haben, sodass kein Grund bestand, den Chef gerade jetzt zu verärgern.
    Eine Woche verging, und obwohl auf der Jagd nach Odins Identität alle zugänglichen Quellen herangezogen wurden, kam nichts dabei heraus. Der Staatsminister tobte vor Wut. Er schrie den

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