Odins Insel
legte auf dem abgenutzten Mahagonitisch seine Hand auf ihre.
Sigbrit Hollands Hand verschwand ganz unter der des Fischers, und einen Moment lang betrachtete sie die Adern, die von der Rückseite der breiten behaarten Hand zu den muskulösen Fingern liefen. Dann zog sie ihre Hand zurück und erhob sich.
»Ich muss jetzt gehen«, sagte sie schnell.
»Wir werden Sie bald wiedersehen, holde Frau«, antwortete der Fischer Ambrosius ruhig.
Schon in der Mittagspause des nächsten Tages ging Sigbrit Holland in die Bibliothek. Doch in der Hauptbibliothek verwies man sie an die Nationalbibliothek, wo sie weiter an das Seefahrtsmuseum verwiesen wurde, von dem aus man sie zum Land- und Katasteramt schickte, das dem Transportministerium unterstellt war, das sie wiederum an seine Spezialarchive weiterverwies. Und für die Spezialarchive des Land- und Katasteramtes brauchte sie einen Termin, den sie erst drei Tage später bekam.
»Die früheste Karte von der Meerenge?« Der Archivar mittleren Alters strich sich vorsichtig mit der Hand über seine wenigen, sorgfältig über die Glatze gekämmten Haare. »Sehen wir einmal, was wir da machen können.« Er trippelte zwischen den Regalen entlang, und Sigbrit Holland hatte es fast aufgegeben zu warten, als er schließlich mit dem Arm voller Bücher und unhandlicher Karten wieder auftauchte.
Die Spezialarchive waren in einem fensterlosen Keller untergebracht. Überfüllte Metallregale standen in Reih und Glied und reichten vom Boden bis zur Decke, grelles Neonlicht drang aus einer schmutzigen Leuchtstoffröhre an der Decke, und der graue Betonboden ließ jede Bewegung widerhallen. Die wenigen Menschen, die anwesend waren, saßen vereinzelt an den Metalltischen und blätterten in den alten Werken, und wenn sie irgendetwas zu dem Archivar sagten, geschah das mit nervös flüsternden Stimmen. Ganz mechanisch senkte auch Sigbrit Holland die Stimme, als sie fragte, wo sie sich hinsetzen konnte. Der Archivar führte sie zu einem leeren Tisch ganz hinten im Raum und gab ihr eine Nummer. Er schrieb dieselbe Nummer in ein Notizheft und notierte ordentlich die Titel der Werke, die Sigbrit Holland in Empfang genommen hatte. Das brauchte lange Zeit, und als der Archivar endlich mit seinem Notizbuch unter dem Arm davontrippelte, war Sigbrit Hollands Mittagspause längst vorbei. Sie hätte eigentlich gehen müssen, erlaubte sich jedoch eine schnelle Durchsicht des Materials, das vor ihr gestapelt lag.
Da waren Kopien von zwei holländischen Periplen – die man, wie der Archivar ihr erklärt hatte, früher Fahrwasserbeschreibungen genannt hatte – aus der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts und Kopien von einigen wenigen Skizzen und Karten aus der Zeit davor. Die Karten waren auf Pergamentpapier gezeichnet, das später auf Leinwand geleimt worden war, damit es nicht zerriss. Es gab Karten, die bis zum Beginn des fünften Jahrhunderts zurückreichten, aber die ältesten sahen so ungenau aus, dass sie keine große Hilfe sein würden. Die berühmte Tabula Moderna extra Ptolemaum mit einer von dem Mönch Donis 1482 gezeichneten Karte stellte das südnordische Festland wie eine sonderbare Schlange dar, und die großen südnordischen Inseln
waren lose um sie verteilt. Weder auf dieser noch auf den nächsten Karten war auch nur der kleinste Hinweis auf die Existenz einer kleinen von Klippen umgebenen Insel in der Meerenge genau zwischen Südnorden und Nordnorden zu finden. Die meisten waren Kopien von großen Werken oder Atlanten, doch selbst die Kopien waren mehrere Jahrhunderte alt, und Sigbrit Holland war es gleichgültig, ob sie sich eine Kopie oder das Original ansah, wenn die Kopien nur genau waren. Die letzte Karte, die vor ihr lag, war Cornelis Anthoniszoons »Caerte van Oostlant« von 1550. Auf ihr sah das Festland wie eine ovale Kartoffel aus, die großen Inseln wirkten seltsam lang gestreckt, während die kleinen Inseln in der Meerenge gar nicht eingezeichnet waren. Sie konnte nichts von alldem gebrauchen.
Sigbrit Holland seufzte und sah auf ihre Uhr; sie war mehr als spät dran. Schnell sammelte sie das Material zusammen und lieferte es bei dem Archivar ab. Die Fahrwasserbeschreibungen würde sie am nächsten Tag noch einmal ausleihen müssen.
Die Demonstration vor dem Krankenhaus hatte sich auf ein gewisses Maß eingependelt, sie reichte von einem Ende des Krankenhausgeländes bis zum anderen – einschließlich des Bürgersteigs und der Straße vor dem Gebäude. Außer den
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