Odins Insel
Justizminister an, der dem Polizeidirektor Vorwürfe machte, der widerum den Untersuchungsbeamten verwarnte, der sofort zwei seiner Männer in die Provinz versetzte. Man musste ein Exempel statuieren.
Sigbrit Holland wusste nicht, was sie tun sollte.
»Halt dich da raus«, beharrten ihr Mann, ihre Familie und ihre Freunde, und im Prinzip war Sigbrit Holland mit ihnen einig. Trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass sie die Nummer des Zentralkrankenhauses drückte, bis ihr erlaubt wurde, Odin eine kurze Nachricht zu hinterlassen, in der sie ihm erklärte, warum sie ihn nicht besuchte. Aber damit schienen ihre Handlungsmöglichkeiten erschöpft. Es hatte keinen Zweck mehr, dem Vorschlag des Fischers Ambrosius zu folgen und den Justizminister anzurufen – Odin und die Insel waren bereits in aller Munde. Sie überlegte, ob sie noch einmal zu dem grün-orangenen Fischerboot gehen sollte, aber es gefiel ihr nicht, dass die Regierung der Frage nach der Insel wirklich keine Beachtung schenkte. Vielleicht irrte sich der Fischer Ambrosius. Vielleicht war seine ganze Geschichte, vielleicht war sogar Odins Geschichte nur erfunden? Auch bei dem Gedanken an den Fremdling fühlte Sigbrit Holland sich unsicher. So sehr sie auch Lust dazu hatte, sie ging nicht zu dem Fischerboot.
Ein Tag nach dem anderen verstrich mit Demonstrationen vor dem Zentralkrankenhaus, feierlichen Verurteilungen, ausgesprochen von diversen Geistlichen, unfruchtbaren Krisensitzungen der Regierung und unbehaglichen Fragen an den Justizminister – sowohl von Reichstagsmitgliedern als auch von der Presse. Das Einsatzteam der Polizei arbeitete unter Hochdruck, aber weiterhin ohne Erfolg, und jeden Tag wurden ein oder zwei Beamte von
der Sache abgezogen und ein oder zwei neue darauf angesetzt. Und während sich die Behörden darum stritten, wer die Verantwortung für die Unruhen zu tragen hatte, stiegen Anzahl und Inbrunst der religiösen Demonstrationen stetig. Früh an einem Mittwochmorgen kam es zu einem besonders heftigen Zusammenstoß zwischen Demonstranten und Polizei, und über die gewöhnlichen Schläge und Verletzungen hinaus wurde ein Beamter so schwer verletzt, dass er im Laufe des Vormittags starb. Sigbrit Holland konnte es nicht länger ertragen. Sie entschuldigte sich mit Kopfschmerzen, verließ die Bank und eilte den kurzen Weg nach Firö zu dem grün-orangenen Fischerboot. Die Uhr über der Apotheke an der Ecke zeigte zwanzig Minuten vor fünf. Sie hatte reichlich Zeit. Wenn sie sich in einer Stunde wieder auf den Heimweg machte, würde sie nicht später nach Hause kommen als üblich.
Das Boot lag genau dort, wo es das letzte Mal geankert hatte. Sigbrit Holland kletterte an Bord und hatte die Tür fast erreicht, als diese schon aufgerissen wurde und ein eingefallener Kopf sich zeigte. Die dünnen grauen Augenbrauen waren so gut wie unsichtbar gegen die pergamentfarbene Haut, die Augen saßen eng beieinander und lagen wie feindliche Steine in ihren tiefen Höhlen, und der Mund bildete eine schmale, fast leblose Linie in dem farblosen Gesicht. Der Mann sagte kein Wort, er starrte Sigbrit Holland nur misstrauisch an.
»Entschuldigung«, sagte sie – das musste der Fremdling sein. Beim letzten Mal hatte sie sein Gesicht nicht gesehen, aber es bestand kein Zweifel. Sie hätte nicht herkommen sollen. »Entschuldigung«, wiederholte sie und trippelte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. »Ich muss mich im Dunkeln geirrt und die Boote verwechselt haben.« Sie drehte sich um und hatte bereits die Reling erreicht, als die Stimme des Fischers Ambrosius ertönte.
»Hei, warten Sie einen Moment. Sie sind das also, holde Frau. Wir haben doch gedacht, dass wir die Stimme kennen. Kommen Sie herein.«
Wieder befand sich Sigbrit Holland in dem langen schmalen Steuerhaus, das Küche und Stube zugleich war. Ohne zu fragen,
schenkte der Fischer Ambrosius Kaffee in eine angeschlagene Tasse und stellte sie vor sie auf den Tisch.
»Nun, holde Frau, was führt Sie heute hierher?« Der Fischer lehnte sich zurück und sah sie abwartend an.
In der Wärme des Steuerhauses hatte Sigbrit Holland ihr Anliegen fast vergessen. Plötzlich kam sie sich wie ein kleines Mädchen vor, das nichts alleine regeln konnte, sondern die ganze Zeit um Hilfe bitten musste. Und obwohl der Fremdling sich in die äußerste Ecke verzogen hatte, störte sie seine Anwesenheit. Er hatte nicht ein einziges Wort gesagt, und sein Gesichtsausdruck hatte sich nicht ein einziges Mal
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