Odins Insel
Bank in die Spezialarchive des Land- und Katasteramts zu kommen, ging die Königin von Südnorden festen Schritts durch die Säle ihres riesigen Heims. Hin und wieder nickte sie flüchtig den knicksenden Stubenmädchen zu und etwas weniger flüchtig dem Hofstaat, an dem sie auf ihrem Weg vorbeikam, bis sie an der nördlichsten Wand im nördlichsten Zimmer eine unsichtbare Tür erreicht hatte. Hier blieb sie stehen und zog, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe war, einen Schlüsselbund hervor. Die Königin wählte einen kleinen leicht rostigen Eisenschlüssel, schloss die Tür auf, trat einen Schritt vor und schloss die Tür wieder sorgfältig hinter sich ab. Sie sah sich um. Sie stand in einem großen ovalen Raum, der vom Boden bis zur Decke mit Büchern, Archivschränken und jahrelangem Staub gefüllt war.
»Ich muss sehen, dass jemand hier sauber macht«, murmelte die Königin, aber sie wusste genau, dass es ihr eigener Fehler war, dass die Staubschicht so dick war. Sie gestattete niemandem den Zutritt zu dieser privaten Bibliothek, die ihrem Vater, ihrem Großvater, ihrem Urgroßvater und dessen Vater und deren Vorvätern gehört hatte und die jetzt ihr Eigen war. Hier waren alle persönlichen Papiere der Königsfamilie versteckt. Auch wenn die Gesetze des Landes vorschrieben, dass Briefe und Dokumente, die von den Monarchen des Landes geschrieben oder empfangen wurden, in die nationalen Archive gehörten, waren die persönlichen Briefe und Papiere der Monarchen immer als deren Eigentum betrachtet worden, es sei denn, sie verfügten etwas anderes. Die Vorväter der Königin hatten dieses Gesetz nach eigenem Gutdünken interpretiert und von Zeit zu Zeit das eine oder andere Dokument als privat erklärt – natürlich alles nur zum Wohle des Landes. Und obwohl die Königin nie auf ein Geheimnis gestoßen war, das entscheidend für das Wohl und Wehe des Landes oder ihrer Familie sein könnte, bewachte sie die Bibliothek, als würde die Zukunft Südnordens von ihr abhängen.
Nur ein schwaches Licht drang durch ein schmales Fenster am Ende des Raums, und die Königin schaltete das elektrische Licht
ein, um sich zu orientieren. Es war ein Jahr her, seit sie zuletzt in der Bibliothek gewesen war, und sie musste sich erst wieder in Erinnerung rufen, wie sie angelegt war. Sie ging an den überfüllten Regalen entlang; es war wie die Suche nach einer Nadel in einem Heuhaufen, abgesehen davon, dass sie nicht einmal sicher war, ob diese Nadel wirklich existierte. Ihr einziger Anhaltspunkt war, dass sie als kleines Mädchen von acht oder neun Jahren in einem Gespräch zwischen ihrem Vater und ihrem Großvater – das sicher nicht für ihre Ohren bestimmt gewesen war – von einer namenlosen Insel gehört hatte, die in der Meerenge genau zwischen dem südnordischen Königinnentum und dem nordnordischen Königtum liegen sollte. Aus diesem Grund hatte Herrn Odin Odins Geschichte ihr Interesse geweckt. Aber wo sollte sie anfangen?
Die Königin hatte keine Ahnung, welcher ihrer Vorväter von der Insel gewusst hatte. Sie würde gezwungen sein, an einem Ende zu beginnen und die Bibliothek chronologisch durchzugehen. Die Bibliothek war im späten 15. Jahrhundert von König Enevold I. eingerichtet worden, der alle Familienpapiere an einem Ort gesammelt hatte. Doch obwohl die südnordische Monarchie vor mehr als tausend Jahren gegründet worden war, war der älteste Fund in der Bibliothek eine Waffe aus dem Jahr 1203, als Südnorden den gesamten nördlichen Teil des großen Reiches besetzt hielt. Die Königin sah die ältesten Gegenstände schnell durch – da war nichts anderes als ein paar primitive Juwelen, ein paar Siegel und einige Münzen. Sie hob eine frühe südnordische Silbermünze auf und wog sie in der Hand. Sie lächelte, einer ihrer Vorväter musste das gleiche Interesse an der Geschichte gehabt haben wie sie – die Münze sollte nicht hier, sondern im Nationalmuseum liegen. Mit einem Seufzer legte die Königin die Münze zurück in die Schublade und ging weiter.
Sie brauchte nicht lange, um das Material aus den ersten Jahren durchzusehen, doch allmählich, nachdem die Dokumentationen umfangreicher wurden, kam die Königin langsamer voran. König Enevold I. war nicht nur König von Südnorden, sondern auch von Nordnorden und Altnorden gewesen, und in einer staubigen Schublade fand die Königin eine schmutzige
Note, in der 1460 seine Ernennung zum Herzog und Grafen der beiden kleinen Staaten
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