Odins Insel
geschildert wurde, die Südnorden von dem großen Reich trennten. Wie war das Königinnentum seit dieser Zeit doch kleiner geworden! Die Königin schloss die Schublade, dass der Staub aufwirbelte und sie zum Niesen brachte. Sie sah auf ihre Uhr; sie zeigte bereits sechs. Es war ein interessanter Nachmittag gewesen, aber bis jetzt war er fruchtlos geblieben. Sie hatte nicht den kleinsten Hinweis auf die unbekannte Insel gefunden.
Auch Sigbrit Holland hatte aufhören müssen. Sie hatte die Zeit vergessen und drei Stunden in den Spezialarchiven verbracht – und war von ihrem Chef zurechtgewiesen worden –, ohne auch nur etwas Nützliches gefunden zu haben. Sie hatte den einen der beiden holländischen Periplen durchgelesen und den anderen durchgesehen, war jedoch nur auf oberflächliche Beschreibungen der Meerenge gestoßen. Dann hatte sie zurück in die Bank gemusst. Jetzt war es nach sechs, und sie hatte noch immer die Arbeit von Stunden vor sich. Aber sie war müde und kam nicht voran. Trotzdem verspürte sie keine Lust nach Hause zu gehen. Mit plötzlicher Entschlossenheit stellte Sigbrit Holland den Computer aus, zog ihren Mantel an und verließ das Büro. Sie ließ den Parkplatz hinter der Bank links liegen und überquerte stattdessen eilig die Firöbrücke und lief nach rechts den südlichen Kanal hinunter zu dem grün-orangenen Fischerboot.
Der Fischer Ambrosius spielte Gitarre und sang, und Odin und Gunnar der Kopf schlugen mit ihren Füßen den Takt. Der Fremdling saß mit einem abwesenden Gesichtsausdruck ganz hinten im Steuerhaus und es war unmöglich zu sagen, ob er die Musik mochte oder ob sie ihn störte.
»Willkommen, holde Frau!«, rief der Fischer und fuhr unbeirrt mit seinem Gesang fort. Sigbrit Holland nahm sich etwas linkisch ein Bier aus dem Kasten, auf den der Fischer zeigte, öffnete es und setzte sich. Der Fischer sang noch ein paar Lieder, dann legte er die Gitarre zur Seite.
»Niemand hat auch nur ein Wort über Odins Flucht verloren«, sagte er ohne Einleitung und griff nach seiner Pfeife, die im
Aschenbecher lag. »Das ist merkwürdig. Entweder wird sie vom Krankenhaus oder von der Polizei oder von der Regierung vertuscht. « Langsam reinigte er die Pfeife und stopfte sie, bevor er wieder aufsah. »Wir wüssten ganz gerne, von wem.«
Wer auch immer sie zu vertuschen wünschte, er hatte kein Glück: Odins Flucht war kein Geheimnis mehr. Früh am Abend erwachte Odins dünner kahlköpfiger Zimmerkamerad Martin aus dem betäubenden Schlaf, in den die Krankenpfleger ihn versetzt hatten, nachdem sie Odins Flucht bemerkt hatten. Martin brauchte nur wenige Minuten, um das herauszufinden, was niemand erfahren sollte. In rasendem Wahnsinn zerschmetterte er ein Fenster und rief den Frommen auf dem Parkplatz zu, dass er sie alle persönlich auf direktem Wege in die Hölle schicken würde, wenn sie Odin auch nur ein Haar krümmten. Sechs Krankenpfleger waren nötig, um den dünnen Mann aus dem Fensterrahmen zu heben und zurück ins Bett zu bringen, wo er wieder festgebunden und in Tiefschlaf versetzt wurde. Die ganze Aktion hatte nicht länger als fünf Minuten gedauert, und da die Frommen glaubten, dass die Ärzte ihnen ein Schnippchen schlagen wollten, um sie zu vertreiben, wäre nichts weiter passiert, wäre nicht zufällig ein Fotograf der Vormittagszeitung zur Stelle gewesen. Martins bleicher nackter Torso in dem zerschmetterten Fenster wurde in Schwarzweiß verewigt, und kaum waren die Zeitungen am nächsten Morgen auf der Straße, als auch schon der Krankenhausdirektor von dem Polizeidirektor verhört wurde, der darauf von dem Justizminister vernommen wurde, der sich wiederum den Fragen der Reichstagsmitglieder und der Presse stellen musste. Eine Zeit lang sah es so aus, als wäre der Justizminister gezwungen zurückzutreten. Doch – nach einer kurzen Besprechung im Büro des Staatsministers – verabschiedete der Krankenhausdirektor stattdessen den Sicherheitschef zusammen mit den beiden Wachmännern, die im Dienst gewesen waren, als Odin und Gunnar der Kopf verschwunden waren. Die Wähler konnten sich so durch Augenschein überzeugen, dass Versäumnisse der öffentlichen Pflichten nicht ungeahndet blieben.
Unter den frommen Demonstranten herrschte große Verwirrung. Gegen wen sollten sie nun ihren Ärger richten, und wo sollten sie mit ihrer Frömmigkeit hin? Simon Peter II. traf sich mit den Wiederauferstandenen Christen im Wäschekeller des Hauses, in dem er wohnte, die neun
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