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Odins Insel

Odins Insel

Titel: Odins Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janne Teller
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ist einfach nicht möglich, ganz und gar nicht. Sehen Sie, sehen Sie selbst.« Der Archivar zog eins der großen schwarzen, in Leder gebundenen Protokolle zum Schalter und öffnete es. Das Buch war so alt, dass die Seiten an den Ecken zerfielen, und die alte säuberliche Handschrift war fast unleserlich, aber es bestand kein Zweifel, dass dieses Buch die Titel der Karten und Bücher enthielt, die die Spezialarchive erhalten hatten, Entstehungs- und Einkaufsdaten waren in geraden Kolonnen sorgfältig notiert.
    »Sehen Sie selbst. Das Jahr 1611.« Der Archivar blätterte einige Seiten um. »Und jetzt 1612.« Er blätterte noch ein paar Seiten um. »1613.« Noch eine Seite und noch eine. Plötzlich trat dem Archivar der Schweiß auf die Stirn, und er begann heftig zu zittern, als hätte er Fieber.
    »Soll ich Ihnen etwas Wasser holen?«, fragte Sigbrit Holland, doch bevor der Archivar antworten konnte, entdeckte sie, was ihn so mitnahm: Mitten in den senkrechten Kolonnen mit den Titeln waren mehrere Linien so gut und gründlich übermalt, dass das Papier fast zerrissen war. Nicht eine einzige Ecke eines einzigen Buchstabens war noch sichtbar. Sigbrit Holland zählte acht Linien, und danach waren bis zum Jahr 1619 mehrere Seiten aus dem Buch herausgerissen. Sie hatte gefunden, wonach sie suchte!

     
    Niemand antwortete. Sigbrit Holland klopfte kräftiger. Aber noch immer kam keine Antwort. Sie drückte die Klinke herunter, aber die Tür war verschlossen.
    »Ambrosius! Ich bin’s, Sigbrit!«, rief sie und guckte durch die Fenster. Sie konnte nichts erkennen, die Gardinen waren zugezogen, und es brannte kein Licht. Vielleicht hatte die Polizei sie gefunden, Sigbrit Hollands Herz schlug schneller. »Ambrosius! «, rief sie wieder und hämmerte mit der Faust gegen die Tür. »Ambrosius! Ambrosius!« Dann hielt sie plötzlich inne, verlegen wegen ihres Benehmens. Was machte sie auch hier, wo sie längst hätte zu Hause sein sollen? Schnell lief sie über das Deck und kletterte auf den Kai.
    »Hey, Sie da! «, rief eine näselnde Stimme von einer Bank etwas weiter den Kai hinunter. Sigbrit Holland sah in die andere Richtung, aber die Frau rief noch einmal. »Hey, Sie, suchen Sie Ambrosius?«
    Sigbrit Holland drehte sich um.
    »Suchen Sie Ambrosius?«, wiederholte die Frau langsam, als machte sie sich die Mühe, jedes Wort deutlich auszusprechen.
    »Ja«, antwortete Sigbrit Holland kurz angebunden.
    »Er ist da rübergegangen«, die Frau zeigte die Straße hinauf in Richtung einer Kellerwirtschaft. »Mit dem klitzekleinen und dem riesengroßen Mann.«
     
    »Sind Sie noch gescheit?«, schrie Sigbrit Holland, um die Musik zu übertönen. »Was ist, wenn ihn jemand erkennt?«
    Der Fischer Ambrosius stand, ohne zu antworten, auf und küsste sie auf die Wange. Dann setzte er sich wieder und lachte unergründlich. Sigbrit Holland sah weg, begrüßte Odin und Gunnar den Kopf und setzte sich auf einen Stuhl, dem Fischer halb den Rücken zugewandt. Ihre Finger trommelten schneller auf ihren Oberschenkel, als das Orchester spielte.
    »Hier erkennt unseren Freund niemand.« Der Fischer Ambrosius legte Odin eine Hand auf die Schulter. Die Musik hatte zu spielen aufgehört, und er konnte in normaler Lautstärke sprechen.
    Was er sagte, stimmte. Wären da nicht seine überaus kleine
Gestalt und sein geschlossenes linkes Auge gewesen, hätte nicht einmal Sigbrit Holland gewusst, dass er es war: Sein weißes Haar war unter eine abgenutzte amerikanische Militärmütze geschoben, sein langer weißer Bart auf die halbe Länge gestutzt, und statt seiner gewöhnlichen kleidähnlichen Gewänder trug er eine blaue Jacke und eine Lederhose, die der Fischer sich von dem Sohn eines Freundes geliehen hatte.
    »Du siehst aus wie ein Kind, das dem Weihnachtsmann den Bart gestohlen hat! «, lachte Gunnar der Kopf.
    »Dem Weihnachtsmann oder Jesu Christi Wiederkunft.« Der Fischer Ambrosius lachte mit und stellte sein Bier auf den Tisch. »Jeder braucht seinen Glauben.«
    »Es gibt Massen von Leuten, die an gar nichts glauben«, sagte Sigbrit Holland.
    »An nichts zu glauben ist wohl auch eine Form von Glauben«, bemerkte der Fischer trocken und sah Sigbrit Holland direkt in die Augen. »Dann gibt es da noch den sonderbaren Glauben an Konventionen, der die Leute wie Fische in einem Phantasieaquarium herumschwimmen lässt, ohne dass sie je den imaginären Glaswänden nah genug kommen, um festzustellen, dass diese gar nicht existieren. Ja, für meinen

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