Odins Insel
Sigbrit Holland.
»Gut«, sagte der Fischer nach einer Pause. »Aber vergessen Sie nicht, dass es draußen bei den Klippen gefährlich werden kann. Und die Rikke-Marie ist viele Jahre nicht draußen gewesen.
Wir werden sie im Laufe des Wochenendes gründlich überholen, sie ist schließlich eine alte Dame.«
»Montag! «, wiederholte Sigbrit Holland ungeduldig.
»Ich mag nicht segeln«, murmelte Gunnar der Kopf. »Ich mag überhaupt nicht segeln.« Aber niemand nahm von ihm Notiz.
»Da ist etwas, worüber ich nachgedacht habe«, sagte Sigbrit Holland zu dem Fischer Ambrosius. »Ich hoffe, es macht nichts, dass ich frage.« Sie zögerte und fuhr mit gedämpfter Stimme fort: »Warum fischen Sie nicht mehr?«
»Fragen Sie ruhig, holde Frau. Ob Sie eine Antwort bekommen, ist etwas anderes.«
Sigbrit Holland wartete, aber der Fischer sagte nichts mehr; sie hätte nicht fragen sollen.
»Es ist eine kurze Geschichte, und es ist eine lange Geschichte«, sagte er nach einer langen Pause. »Aber jetzt ist es spät, und wir sollten besser ins Bett kommen. Die Geschichte gehört zum Meer, und auf dem Meer kann sie erzählt werden. Holde Frau, Montag um acht!«
Sigbrit Holland nickte, obwohl sie plötzlich nicht sicher war, ob es wirklich eine gute Idee war, mitzukommen.
Mechanisch trommelte sie mit den Fingern und grübelte darüber nach, welche Entschuldigung sie in der Bank vorbringen und wie sie Fridtjof erklären sollte, dass sie mit Odin und dem Fischer Ambrosius hinaussegeln wollte, anstatt zu arbeiten.
Sie bezahlte ihr Bier, und Gunnar der Kopf nahm Odin auf den Arm und trug ihn wie ein Kind aus der Wirtschaft den Kai hinunter zu dem grün-orangenen Fischerboot. Sigbrit Holland winkte zum Abschied und fuhr in ihrem Auto Richtung Norden.
Im Laufe des Wochenendes, während der Fischer Ambrosius die Rikke-Marie reparierte und Sigbrit Holland gemeinsam mit ihrem Mann Haus und Garten in Ordnung brachte, studierte die Königin die vier kleinen Tagebücher. Seite um Seite war mit nahezu unleserlichen Kritzeleien bedeckt, und die Königin musste ihre Augen anstrengen, um sie zu entziffern. Aber sie war von dem Inhalt so gefesselt, dass sie kaum eine Pause machte, um zu essen oder sich auszuruhen. Das rührte nicht daher, dass es für
die Landesgeschichte oder dergleichen von großem Interesse war. Nein, abgesehen von Beschreibungen des ewigen Konflikts mit dem nordnordischen Königtum und König Enevolds IV. starker Abneigung gegenüber den wechselnden nordnordischen Königen beschränkten sich die Tagebücher auf das Privatleben des Königs. Da war die Rede von der Liebe zu seinem Vater, der schon nicht mehr lebte, als der König noch blutjung war, und von seiner Furcht vor ihm, von seinem nie endenden Tatendrang, von der platonischen Ehe mit seiner ersten Frau, dem sich fortsetzenden Strom der Geliebten, von den vielen Kindern und – von der Mitte des zweiten Tagebuchs an – im Großen und Ganzen von nichts anderem als von der Liebe seines Lebens: von der Herzallerliebsten , wie er die Bürgerliche Drude Estrid nannte. Ja, das war, bevor sie heirateten und die Frau sein Leben in eine Hölle verwandelte, die nie enden sollte, dachte die Königin und fuhr mit der Entzifferung der Schrift ihres Ahnen fort.
Gegen Ende des zweiten Tagebuchs schrieb der König, dass ihm eine ausgezeichnete Idee gekommen war: Er wollte die kürzlich entdeckte Insel in der Meerenge seiner Geliebten zum Hochzeitsgeschenk machen und nach ihr benennen, Drude-Estrids-Insel. Da er den Krieg von 1611 bis 1613 gegen Nordnorden gewonnen hatte, war der König der Ansicht, niemanden um das Recht auf den kleinen Landstreifen mitten in der Meerenge fragen zu müssen.
Die Insel, dachte die Königin und musste sofort an den kleinen alten Mann und seine Geschichte denken. Mit erneutem Eifer las sie weiter. Aber es folgten keine weiteren Details über die Insel, die der König erwähnt hatte. Da war eine Beschreibung einer furchtbaren Schlacht zwischen der südnordischen und der nordnordischen Flotte in der Meerenge, bei der ein Großteil an Schiffen und Mannschaft verloren ging, nicht nur in den gewaltigen Kämpfen, sondern auch wegen der scharfen Klippen. Die Beschreibung der Seeschlachten brach mitten in einem Satz ab, dann waren verschiedene Abschnitte durchgestrichen, und die darauf folgenden Sätze handelten nur wieder davon, wie sehr der König Drude Estrid verehrte, bis sie ihm schließlich – oder war es ihre Mutter? – ihr Jawort gab und
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