Odins Insel
die Hochzeitsvorbereitungen
beginnen konnten. Ganz hinten im Buch fehlte eine größere Anzahl von Seiten, und die Königin öffnete das dritte Tagebuch. Doch es begann erst viele Jahre später, nachdem der König und Drude geheiratet hatten, und bei ihrer schnellen Durchsicht fand die Königin nicht einmal einen kleinen Hinweis auf die Insel. Das, wonach sie suchte, musste auf den herausgerissenen Seiten gestanden haben. Die Königin las nun das dritte und vierte Tagebuch gründlich durch, doch über die Insel stand nichts mehr darin. Sie studierte die Daten. Der Krieg gegen Nordnorden, den der König beschrieb, gehörte nicht zu der bekannten südnordischen Geschichte. Seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens von 1613 herrschte trotz des Hasses zwischen dem südnordischen König und dem jungen nordnordischen König offiziell Frieden zwischen den beiden Ländern, bis Nordnorden – ohne ordentliche Kriegserklärung – 1643 Südnorden besetzte. Wie hatte Nordnorden die südnordischen Provinzen in Nordnorden durchqueren können, um einen blutigen Kampf in der Meerenge auszufechten, ohne dass das in den offiziellen Annalen vermerkt war? Das war äußerst merkwürdig. Doch Geschichte oder nicht, einige furchtbare Schlachten hatten offenbar stattgefunden, und König Enevold IV. hatte das Versprechen, das er seiner Geliebten gegeben hatte, nie eingelöst. Was war dazwischengekommen?
Die Königin sah auf die Uhr auf ihrem Nachttisch. Mitternacht war vorüber, morgen war Montag, und sie musste früh aufstehen. Mit einem Seufzer legte sie die Bücher zur Seite. Sie sah auf ihre Notizen. Sie hatte sorgfältig alle Hinweise auf die Insel kopiert, aber es gab nicht viele Anhaltspunkte: eine namenlose Insel, ein paar Klippen, ein paar furchtbare Seeschlachten und ein Hochzeitsgeschenk, aus dem nie etwas geworden war. Wie ist das Leben doch kurios, dachte die Königin. Die Fähre, die sie am morgigen Tag taufen sollte, sollte nach König Enevold IV. benannt werden. Und das Schiff, das zwischen Südnorden und Nordnorden verkehren sollte, würde die Meerenge mehrmals täglich überqueren, in der sich allem Anschein nach die Insel befand, die der König nicht zu der Insel seiner Geliebten hatte machen können.
IV Odin, Wili & We
Tod und Pein
den Guten wie den Bösen trafen
bis Gott Börs die Riesin Bestla freite
die bald ihm gebar drei Söhne: Odin, Wili und We
Geist, Leben und Willen ihrem Vater halfen
getötet wurde Ymer, der ärgste Riese
eine Sturmflut sich aus seinem Blut ergoss
die Samen all ertränkte
– bis auf den einen, Bergelmir
Doch was wie das Ende aussah, war es nicht
G ott sei mit dir, Enevold IV.!« Die Königin schleuderte die Champagnerflasche gegen den Kiel der Fähre, die Flasche zerbarst, das Publikum kreischte, und der Reeder dankte der Königin für ihre Anwesenheit und ihre Worte. Ein kalter Seenebel trieb feucht über den Hafen, der knallrote Mantel der Königin flatterte im Wind, und sie musste ihren Hut festhalten. Die Königin sah forschend zum Himmel. Obwohl es grau und windig war, sah es nicht nach Regen aus. Wenn der Kapitän der königlichen Yacht keinen Einspruch erhob, wollte sie an ihren Plänen festhalten.
Die Königin hörte nicht auf die Worte des Reeders, während sie neben ihm her zu der wartenden Limousine ging. Sie lächelte und nickte hin und wieder, dann winkte sie den frierenden Zuschauern zum Abschied und fuhr davon.
»Zum königlichen Kai«, sagte sie und bat den Chauffeur, einen Bericht über die Wetterverhältnisse von dem Kapitän einzuholen. Kalt und windig, aber ausgezeichnet, wenn sie nicht außerhalb der Meerenge segelten, lautete die Antwort, und eine halbe Stunde später lief die königliche Yacht aus dem Hafen aus, das weiße Großsegel toste im Wind wie ein ohrenbetäubender Sturm.
Die königliche Yacht durchschnitt die Wellen mit großer Geschwindigkeit. Aber es dauerte nicht lange, bis der Kapitän den Matrosen befahl, die Segel einzuholen. Der Wind war zu frisch, die Yacht würde mit Motorkraft stabiler sein. Die Königin stand mit einem Fernglas vor den Augen neben dem Kapitän auf der Brücke. Nahezu sofort ahnte sie die Konturen der Klippen, die bald deutlicher wurden und sich vor ihnen auftürmten. Als die
Yacht näher an sie herankam, drosselte der Kapitän die Geschwindigkeit und steuerte nach den Anweisungen der Königin nordwärts.
Die Königin studierte die Furcht einflößenden schwarzgrauen Massen, die sich mit zackigen Vorsprüngen,
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