Odins Insel
ihrem Bruder her, der über die Wiese flüchtete, während der Eimer mit den Regenwürmern an seinem Arm tanzte.
»Lügnerin! Lügnerin!« Ingolf drehte den Kopf, ohne langsamer zu werden.
Ida-Anna verfolgte ihn noch ein wenig, dann hielt sie inne. Plötzlich hatte sie die Lust, ihn einzuholen, verloren. Und er sollte auf keinen Fall die Tränen sehen, die sie wütend mit ihrem Ärmel abtrocknete.
»Es ist wohl an der Zeit«, murmelte die alte Rikke-Marie und schaukelte in ihrem Schaukelstuhl hin und her. Sie saß im Schatten unter der großen Esche am Ententeich. Sechs Sternschnuppen innerhalb von zwölf Tagen, zählte sie an ihren knochigen Fingern. Das konnte nur eins bedeuten: Die Zeit der alten Rikke-Marie war gekommen. Sie war nicht unglücklich darüber, nicht einmal traurig. Nein, ehrlich gesagt, freute sie sich darauf, den Spuren ihrer Familie und ihrer Vorväter zu der Klippe des Lebens hinaufzufolgen, um nie mehr zurückzukehren.
Das Einzige, das die alte Rikke-Marie bedauerte, war, dass sie womöglich nicht in Smedieby sein würde, wenn der Fremde vom Kontinent zurückkam, um sein Pferd zu holen. Unsagbar gerne hätte sie gehört, ob er etwas über ihren Vater Richard, den Rotblonden, herausgefunden hatte, und unsagbar gerne hätte sie mit ihm eine Fahrt in seinem Schlitten gemacht, wie er es ihr versprochen hatte. Aber die alte Rikke-Marie war alt genug, um zu wissen, dass manche Wünsche dazu bestimmt waren, Wünsche zu bleiben. Herr Odin konnte nicht zurückerwartet werden, bevor nicht die Nächte wieder die Zeit von den Tagen gestohlen hatten und das Meer zu einer zerbrechlichen Brücke aus Eis geworden war, die Kontinent und Insel verband, und es konnte noch viele Winter dauern, bis der Frost wieder die vierundzwanzig Nächte über die Insel hereinbrach, die das Meer zum Zufrieren brauchte, wie ihre Großmutter gesagt hatte. Die alte Rikke-Marie hatte nicht mehr viele Winter zu warten; der kommende würde ihr letzter sein.
»Haben die Frommen sich wieder eine Schlacht geliefert?«, fragte Sigbrit Holland, sobald sie die Tür des Steuerhauses geöffnet hatte. »Überall wimmelt es von Polizei, sie wollten mich fast nicht durchlassen.«
»Kommen Sie und begrüßen Sie Brynhild Sigurdskaer«, sagte der Fischer Ambrosius, ohne zu antworten, und erst jetzt bemerkte Sigbrit Holland die Frau, die gegen den abgenutzten Mahagonitisch gelehnt stand.
Sigbrit Holland erstarrte; die Frau war genauso groß wie sie, aber damit hörte auch schon jede Ähnlichkeit auf. Brynhild
Sigurdskaer war so hell, dass sie fast durchsichtig war. Ihr Haar war lang, dick und lockig, ihre Augen so hellblau, dass sie weiß aussahen, und ihre Haut so unberührt von Farbe, dass man dem abstrakten Muster der Adern folgen konnte. Ihr dünner Körper war in ein langes ärmelloses Spitzenkleid gehüllt, das genauso weiß war wie ihre Haut. Es war unmöglich zu sehen, wie alt sie war, zwischen dreißig und sechzig war jedes Alter denkbar. Sie war weder schön noch hässlich, nur auffallend anders. Vor zweihundert Jahren hätte man sie als Hexe verbrannt, dachte Sigbrit Holland und schüttelte sich. Fast gegen ihren Willen streckte sie die Hand aus.
»Die Welt steht am Rande des Wahnsinns«, sagte Brynhild Sigurdskaer freundlich und setzte einen Kessel mit Wasser auf.
Die durchsichtige Frau sprach so leise, dass es niemand gehört hätte, wäre es nicht so gewesen, dass die Worte einen Augenblick in der Luft zu vibrieren schienen. Sie nahm vier Tassen aus dem Schrank und stellte sie auf den Tisch. Offensichtlich kannte sie sich gut aus in der Rikke-Marie. Sie bewegte sich schwebend, als berührten ihre Füße die Kajütendiele nicht, und eine Bewegung war nicht von der anderen zu unterscheiden.
»Nun, ungeachtet dessen, was heute hier passiert ist, ist das wohl etwas übertrieben.« Sigbrit Holland konnte eine leichte Schärfe in ihrer Stimme nicht verhindern, und einen Moment starrten sich die beiden Frauen in die Augen.
»Die Welt steht am Rande des Wahnsinns«, beharrte Brynhild Sigurdskaer in ihrem freundlichen Flüstern und ging zum Fenster hinüber, ohne auf eine Antwort zu warten. Sie sah aus, als dächte sie über etwas nach. Dann wirbelte sie herum und sah den Fischer Ambrosius an.
» Erwähne sie oder nähere dich ihr ; es ist nicht viel, was du mir erzählst«, sagte sie leise.
»Das ist alles, was wir haben.«
»Dann muss ich damit auskommen.« Ihre Augen leuchteten. »Fahr hinaus, bevor der Wahnsinn sich
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