Odins Insel
Mähne
der Schlaf für das Erdengeschlecht zu Ende war
Denn so ging das Jahr herum
D er Himmel war hellblau, die Junisonne stand bereits hoch, und kein Lüftchen regte sich. Es würde ein schöner Tag werden. Alvilda lenkte das Flugzeug langsam zum Ende der Startbahn und drehte seine Nase gen Westen.
»Mission 2474, cleared for take-off, runaway 28«, kam es vom Kontrollturm.
»Cleared for take-off.«
Das Flugzeug nahm schnell an Geschwindigkeit zu, Alvilda drückte die Gashebel, und der kleine Gulfstreamjet stieg auf ins Morgenlicht. Wie sie dieses Gefühl der Freiheit liebte, das sie jedes Mal ergriff, wenn die Räder den Kontakt zum Asphalt verloren und ihre Metallkiste der Schwerkraft trotzte und sie in einen Himmel voller Phantasien und Aberglauben schleuderte.
»Ich habe das Paradies noch nicht gefunden. Und Gott habe ich auch nicht getroffen«, lachte Alvilda bei jedem Versuch ihrer Freunde oder Kollegen, sie in geistig hochtrabende Diskussionen zu verstricken. Alvilda liebte das Abenteuer, hatte volles Vertrauen in die moderne Technik und allen Respekt davor und nur Verachtung für Religion und Aberglauben, die sie im Übrigen für ein und dasselbe hielt. Sie arbeitete seit acht Jahren als Aufklärungspilotin für die südnordische Luftwaffe, aber das hier war die spannendste Aufgabe, die sie je gehabt hatte – eine Insel zu fotografieren, von der bis vor ein paar Wochen noch niemand etwas gehört hatte. Wer hätte es in diesen modernen Zeiten für möglich gehalten, dass es noch immer ein Stück jungfräulichen Landes gab und das in diesem Teil der Welt?
Da war auch noch etwas anderes gewesen, das Alvilda bewogen
hatte, sich freiwillig für diesen Job zu melden: die drei Flugzeuge, die über der Insel verschwunden waren – ganz zu schweigen von den zwei nordnordischen natürlich. Als wäre der alte Aberglaube doch wahr. Wer würde so eine Gelegenheit vorübergehen lassen? Nach dem, was man von dem Ort sagte, war es offensichtlich, dass Schiffe einen Zusammenstoß mit den Klippen, die die Insel umgaben, nicht überstanden. Aber Alvilda war nicht die, die auf Ammengeschwätz hörte, demzufolge Flugzeuge auf mystische Weise spurlos verschwanden. Es war schon richtig, dass Tradition und ungeschriebene Regeln die Piloten davon abhielten, sich in den rektangulären Luftraum über der Meerenge zu wagen, der sich von der Spitze Urös gut und gern zehn Kilometer südlich erstreckte und die merkwürdigen Wolken einschloss, die immer über den Klippenformationen hingen. Und es war richtig, dass in den Flugbüchern das unaufgeklärte Verschwinden einiger Flugzeuge in genau diesem Luftraum registriert war, aber das lag viele Jahre zurück und war nicht besonders genau dokumentiert. Anscheinend hatte seit dem zweiten großen Krieg niemand versucht, in dieses Gebiet zu fliegen – das heißt bis vor ein paar Wochen. Aber menschliches Versagen ist die Ursache der meisten Mysterien , lachte Alvilda und wiederholte eines der Mantras ihres Lehrers. Sie und mehrere ihrer Kollegen waren immer der Meinung gewesen, dass das Gebiet für Flüge gesperrt war, weil der Staat an dem einen oder anderen Entwicklungsprojekt arbeitete. Das heißt, bis die Geschichte mit der Drude-Estrid-Insel auftauchte.
»Als würde der Teufel in unserer Mitte wohnen«, hatte Alvilda gelacht, als einer der Offiziere leicht entschuldigend eingeräumt hatte, dass man es vorzog, nicht die Verantwortung dafür zu übernehmen, jemanden für diese Aufgabe zu bestimmen und es deshalb Freiwilligen überlassen wollte, sich zu melden. Aber das war Alvildas Chance gewesen…
Mission 2472 hatte eine Höhe von 3000 Fuß gewonnen. Alvilda drehte das Flugzeug um fast 180 Grad und nahm Kurs Richtung Nordosten. Die Sicht war perfekt, und von Südosten schien die Sonne durch das Fenster und wärmte das Cockpit. Mit der Sonne im Rücken würden sie hervorragende Bilder von der
östlichen Küstenlinie bekommen. Was die westliche Küste anging, hing es von dem Talent des Fotografen ab, das Gegenlicht zu manipulieren.
Alvilda wandte das Gesicht dem zweiten Piloten zu, einem jungenhaften dunkelblonden Mann, dessen schmächtiger Körper gut zu seinem etwas ängstlichen Gesichtsausdruck passte.
»Bist du nervös, Balder?«, neckte sie und schlug ihm freundschaftlich auf den Schenkel. Balder war neu in der Luftwaffe und musste seinen Mut und seine Männlichkeit beweisen, indem er jeden Job annahm, bei dem andere zögerten, und als Alvilda erst die zitternden
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