Odins Insel
wolkenlosen Himmel, und die Luft schien still zu stehen. Das Wasser gluckerte leise gegen die Seiten des Fischerbootes, die Enten schnatterten vergnügt, und von Zeit zu Zeit kam ein Kanalboot voller zufriedener Touristen vorbei. Die Polizei hatte die Zugangsbeschränkungen für das Gebiet aufrechterhalten, sodass die Frommen weder zu sehen noch zu hören waren. Stattdessen hatten die lokalen Alkoholiker ihre Lieblingsbänke zurückerobert und lachten über die gleichen alten Witze. Odin und der Fischer Ambrosius saßen auf Deck der Rikke-Marie im Schatten der Steuerhauswand. Sigbrit Holland ging hinein, um sich ein Mineralwasser zu holen, und entdeckte den Fremdling, der wie üblich in seiner Ecke saß und vor sich hin starrte. Weder Gunnar der Kopf noch Brynhild Sigurdskaer waren zu sehen. Sigbrit Holland machte das Mineralwasser auf und ging wieder hinaus und setzte sich, den Rücken gegen die Reling gelehnt.
»Jetzt müssen wir nur noch die Erben finden«, sagte sie gut gelaunt zu dem Fischer und nahm einen Schluck aus der Flasche.
»Nur?«, rief der Fischer Ambrosius. Er lachte rau. »Sie sprechen von Reichsarchiven, Kirchenbüchern und Gott weiß was allem. Das kann Monate dauern, und das sind Monate, die wir nicht haben.«
Sigbrit Holland trommelte leicht mit den Fingern gegen den Flaschenhals und sah von dem Fischer zu Odin hinüber.
Plötzlich sah sie mutlos aus.
»Zeit ist gewonnene Zeit oder verlorene Zeit«, sagte Odin ungerührt und wickelte sich den Bart um die Finger, während er überlegte, ob die Verspätung, mit der die Unheilsbotschaften ankommen würden, als gewonnene oder als verlorene Zeit anzusehen war.
Das Boot schaukelte leicht, und Brynhild Sigurdskaer gesellte sich zu ihnen. Sie trug ein anderes knöchellanges weißes Kleid.
Eine Furche zeigte sich auf Sigbrit Hollands Stirn.
»Wir brauchen alle Hände, die wir bekommen können«, sagte der Fischer gutmütig und nahm ihre Hand.
»Ja.« Sigbrit Holland nickte und versuchte enthusiastisch zu klingen. »Natürlich.« Sie schielte zu ihrer Uhr – halb sieben, sie musste gehen. Aber sie stand nicht auf und zog nicht die Hand zurück. Der Fischer Ambrosius sah sie mit einem merkwürdigen Ausdruck an. Ihre Augen trafen sich.
»Das wird nicht leicht«, flüsterte Brynhild Sigurdskaer rau, und Sigbrit Holland schüttelte sich. »Es wird nicht leicht, die Erben zu finden, und es wird nicht leicht, sie dazu zu bewegen, euch das zu geben, wonach ihr sucht.«
Sigbrit Holland senkte den Blick. Eine Sekunde hatte sie geglaubt, dass Brynhild Sigurdskaer ihre Gedanken lesen konnte.
»Nein, aber es ist immer noch unsere größte Chance, nicht wahr?«, antwortete sie und stand abrupt auf.
»In diesem Stadium ist es unsere einzige Chance!«, fügte der Fischer Ambrosius trocken hinzu. »Das heißt, wenn Brynhild Sigurdskaer nichts für uns hat?«
Brynhild Sigurdskaer sah über die Reling in das schwarze Wasser hinunter. Es dauerte lange, bevor sie antwortete und selbst da blickte sie nicht auf.
»Nähere dich der Insel und die Hölle bricht los; erwähne die Insel und die Hölle bricht los.« Brynhild Sigurdskaer lachte rau, als würde sie sich über etwas amüsieren. Dann richtete sie sich plötzlich auf und drehte sich um. »Kein Spruch ist richtig, beide sind falsch.«
»Falsch?«, der Fischer Ambrosius runzelte verwundert die Stirn.
»Die Worte haben keinen Rhythmus, keine Harmonie. Wie immer sie lauteten, sie waren anders.« Wieder lachte sie, diesmal jedoch freudlos. »Ein Spruch oder zwei, das weiß ich nicht. Aber der Klang war ganz anders. Im Lauf der vielen Jahre ist daraus das geworden, was wir kennen.« Brynhild Sigurdskaer wirbelte um sich herum, und das weiße Kleid flatterte in der Luft.
Der Fischer Ambrosius rieb sich das Kinn.
»Was glaubst du, war es einer oder waren es zwei?«, fragte er, als die durchsichtige Frau wieder still stand.
Brynhild Sigurdskaer starrte ihm in die Augen.
»Zwei. Es sind zwei. Keiner davon ist richtig, aber es gibt sie beide.« Sie trat einen großen Schritt zurück, als hätte sie Angst vor ihren eigenen Worten. »Vielleicht hat es noch mehr gegeben. «
»Noch mehr?«, rief der Fischer Ambrosius. »Wir hätten dem Geschwätz der Seeleute in den späten Abendstunden wahrlich besser zuhören sollen, als wir selber noch einer waren. Jetzt müssen wir einen finden, der willens ist, zu reden.« Er blinzelte Sigbrit Holland zu. »Aber das könnte sich als einfacher erweisen, als die Erben unseres
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