Odins Insel
»Nein, Nordnorden ist ein Land, mit dem man so wenig wie möglich zu tun haben sollte.« Herr Bramsentorpf war sehr zufrieden mit der Entwicklung des Gesprächs, obwohl es eigentlich von Beginn an falsch gelaufen war. »Es ist eine Frage der Geschichte«, fuhr er in vertraulichem Ton fort. »Schreckliche Kriege, viele Tote…« Herr Bramsentorpf malte nun die furchtbaren Leiden aus, die Südnorden während der letzten vier-, fünfhundert Jahre durch den brutalen Charakter seines nördlichen Nachbarn zu erleiden gehabt hatte, und da sich schließlich nicht mehr viel zu diesem Thema sagen ließ, lehnte er sich vor und flüsterte rau: »Und nun, nun hat die nordische Regierung die Absicht, Sie zu entführen!«
Erschrocken riss Odin die Augen auf. Er war sich nicht ganz sicher, was entführen hieß, aber so, wie Herr Bramsentorpf das Wort aussprach, musste es etwas sein, das zu erleben man sich nicht wünschen sollte.
»Wie ich sehe, verstehen Sie den Ernst der Lage«, sagte Herr Bramsentorpf, und um ganz sicherzugehen, dass dem kleinen alten Mann keine Zweifel kamen, spielte er seinen Trumpf aus. »Und wenn es Nordnorden gelingt, Sie zu entführen, verzögert das nicht nur die Erfüllung der Formalitäten, sondern auch die Einrichtung der Luftbrücke. Ja, ich würde möglicherweise so weit gehen zu sagen, dass sich alles beträchtlich verzögern wird.«
Jetzt verstand Herr Odin den vollen Umfang des Unglücks, von dem Herr Bramsentorpf sprach, und der Rest war mehr als einfach.
»Sehr lange und sehr schöne Ferien. Man könnte sogar so weit gehen zu sagen, je länger, desto besser«, schloss Herr Bramsentorpf seine lange Erklärung, wie Odin einer Entführung durch die nordnordische Regierung am besten entgehen konnte. »Aber Herr Odin, nichts ist so schlecht, dass es nicht für etwas gut ist, und ich kann Ihnen mit ziemlicher Garantie versprechen, dass die Regeln und Formalitäten erfüllt sein werden, wenn Sie aus den Ferien zurückkommen, sodass Sie und eh… Ihr Veterinär dann sofort nach Smedieby zurückkehren können.«
Jetzt verabschiedete sich Herr Bramsentorpf und wünschte Odin wirklich lange und wirklich schöne Ferien und verließ das grün-orangene Fischerboot mit einem zufriedenen Lächeln, obwohl ihm der Schweiß den Rücken hinunterlief und seine Haut unter dem marineblauen Anzug furchtbar zum Jucken brachte. Der Justizminister würde mehr als zufrieden sein, sagte sich Herr Bramsentorpf grinsend, und wenn der Minister mehr als zufrieden war …
Bischof Bentsen war ein geduldiger Mann. Aber Bischof Bentsen war auch ein Mann der Ehre. Und als die Wiederauferstandenen Christen die Erlöserkirche fünf Tage besetzt hielten, ohne dass die Behörden eingegriffen hatten – die Regierung wünschte um jeden Preis, weitere Unruhen zu verhindern –, war man Bischof Bentsens Ehre zu nahe getreten. Er rief den Bischofsrat zu einer Krisensitzung zusammen, und die zehn Bischöfe der etablierten Kirche Südnordens wurden sich schnell einig, dass das Maß voll war. Jetzt reichte es! Bevor zehn Minuten vergangen waren, hatte
der Bischofsrat einstimmig beschlossen, dass die etablierte Kirche nicht länger stillschweigend bei der Ausbreitung falscher Prophezeiungen über Christi Wiederkunft und die nahende Apokalypse zuschauen wollte. Der Bischofsrat wollte sich mit einer Kritik bezüglich des zurückhaltenden Verhaltens seitens der Regierung an die Presse wenden, und der Bischofsrat wollte gegen die Weltuntergangspropheten demonstrieren.
Aber Bischof Bentsen war nicht nur ein geduldiger Mann und ein Mann von Ehre, er war auch ein kluger Mann. Und Bischof Bentsen wusste sehr wohl, dass Gegenaktionen nicht nur fehlschlagen und von gewissen Gruppen innerhalb der Gesellschaft als Parteinahme für die nordnordischen Wahren Christen angesehen werden konnten, sondern auch, dass sie selbst im günstigsten Fall nicht ausreichen würden. Nein, um das eigentliche Problem zu lösen, musste Herr Odin Odin verschwinden – wenigstens eine Zeit lang. Und als der rechtschaffene Mann, der Bischof Bentsen auch war, beschloss er, dem kleinen alten Mann eine Chance zu geben.
So kam es, dass nur wenige Minuten nachdem Herr Bramsentorpf das grün-orangene Fischerboot verlassen hatte, ein gewisser Viktor Valentino dem wachhabenden Beamten seinen Führerschein sowie einen Brief von Bischof Bentsen zeigte und die Polizeiabsperrung passieren durfte. Viktor Valentino war ein lebhafter Mann mit schwarzem Haar, schwarzen Augen und
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