Odins Insel
auf.
Bis Mittag waren es noch immer zwei Stunden, aber Sigbrit Holland konnte nicht warten. »Ich muss zum Arzt«, sagte sie beiläufig zu ihrem Chef und versuchte seinen vorwurfsvollen Blick zu ignorieren.
»Ambrosius und Odin sind nicht zu Hause. Ich weiß nicht, wann sie zurückkommen.« Brynhild Sigurdskaer lächelte freundlich. »Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«
Sigbrit Holland hatte keine Lust, mit der durchsichtigen Frau alleine zu sein, aber sie konnte nicht schon wieder zurück in die Bank gehen, also setzte sie sich. Da war auch etwas, das sie Brynhild Sigurdskaer gerne fragen wollte.
»Wo ich wohne?«, die durchsichtige Frau wiederholte langsam die Frage. »Was für ein interessanter Gedanke.« Ihr Gesicht öffnete sich zu einem verwunderten Lächeln. »Ich glaube nicht, dass ich Ihnen darauf eine Antwort geben kann«, fuhr sie nachdenklich fort. »Oder vielleicht doch, die Antwort heißt überall. Ich wohne überall«, ihre Worte klangen witzig, aber ihr Gesicht war ernst.
»Entschuldigung, ich habe mich nicht klar ausgedrückt.«
Sigbrit Holland versuchte entgegenkommender zu klingen. »Ich habe mich nur gefragt, ob Sie kein Zuhause haben oder…?«
»Oh, ich habe Sie sehr gut verstanden. Wenn ich sage, dass ich überall wohne, meine ich, dass ich überall wohne, wo ich bin. Im Moment ist die Rikke-Marie mein Zuhause. Vielleicht ist mein Zuhause morgen anderswo und die Woche darauf wieder an einem anderen Ort. Mein Zuhause bin ich selbst.« Brynhild Sigurdskaer lachte leise. »Und mein Rucksack, natürlich. Das ist alles.«
Die beiden Frauen sahen sich einen Augenblick stumm an. Dann kehrte Brynhild Sigurdskaer die Frage um.
»Und Sie? Wo wohnen Sie?« Sie sprach das Wort wohnen aus, als würde sie es zum ersten Mal in diesem Zusammenhang gebrauchen.
Plötzlich war Sigbrit Holland verlegen. Die richtige Antwort würde lauten, in einem Haus nördlich von Fredenshvile. Aber war das die Wahrheit? Wohnte sie dort? Oder war das auch nur ein Ort, an dem sie sich aufhielt? Sie sah auf die Maserungen in dem alten Mahagonitisch. Brynhild Sigurdskaer hatte etwas Beunruhigendes an sich. Anstatt die Frage zu beantworten, stellte Sigbrit Holland eine andere.
»Haben Sie keinen Job oder … Ich meine, wovon leben Sie?«
Wieder lächelte Brynhild Sigurdskaer leicht verwundert.
»Sie stellen sehr merkwürdige Fragen«, sagte sie. »Aber ich glaube, ich weiß, was Sie meinen. Ich weiß allerdings nicht, wie
ich das erklären soll …« Sie starrte vor sich hin, als würde sie sich an etwas Trauriges erinnern. »Heute lebe ich von dem Duft der Erde bei Regenwetter«, sagte sie sanft. »Morgen lebe ich vielleicht von dem Knistern der Blätter unter den Hufen der Rehe oder von dem Widerschein der Sonne in den violetten Kräutern. «
»Und Geld?«, rief Sigbrit Holland und war plötzlich wegen ihrer Worte verlegen. »Müssen Sie nicht für Ihren Lebensunterhalt arbeiten? Oder zumindest für die Grundbedürfnisse?« Sie war entrüstet, wusste aber nicht, warum. Sie dämpfte ihre Stimme. »Entschuldigung, aber ich verstehe das einfach nicht, Sie müssen doch essen?«
Brynhild Sigurdskaer sah verwirrt aus.
»Man braucht ja nicht viel zum Essen. Ich arbeite, wenn ich muss.« Dann lachte sie leise, als hätte sie endlich verstanden, worauf Sigbrit Holland hinauswollte. »Ich arbeite, wenn ich hungrig bin, wenn ich einen neuen Wintermantel brauche oder meine Schuhe besohlt werden müssen. Ich kann viele unterschiedliche Dinge tun, ich mache von allem ein bisschen: Ich sehe in die Zukunft und ich kenne Sprüche, die andere vergessen haben. Wenn das nicht reicht, säubere ich Fisch in den Fabriken, verkaufe Brot in den Bäckereien, mache sauber, fahre Lastwagen und manchmal, manchmal gehe ich mit reichen Männern ins Bett.«
Sie bemerkte den verblüfften Ausdruck auf Sigbrit Hollands Gesicht.
»Das ist doch alles das Gleiche, nicht wahr? Und Letzteres geht am schnellsten, dann lebe ich wieder.«
Sigbrit Holland sah auf ihre Uhr und stand auf.
»Es tut mir Leid, aber ich bin spät dran.« Das stimmte nicht, aber sie hatte plötzlich das Bedürfnis, alleine zu sein.
Sigbrit Holland ging schnell den Kai entlang. Sie war entrüstet, wusste aber nicht, warum. Dass die durchsichtige Frau hin und wieder ihren Körper verkaufte, war nicht so ungewöhnlich. Nein, es war eher die Art, wie sie darüber gesprochen hatte, so beiläufig, wie sie es mit jedem anderen kleinen Job verglichen
hatte, als wäre es etwas,
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