Odins Insel
alle Vorderzähne verloren und weigerte sich seitdem, auch nur ein Wort zu sprechen – was erheblich ernster war.
Natürlich konnte niemand wissen, dass Hesekiels Stummheit weniger mit dem Verlust seiner Zähne als mit der Tatsache zu tun hatte, dass sein Bruder beschlossen hatte, dass der Augenblick gekommen war. Wie verzweifelt und verlassen sein frommer kleiner Bruder auch aussah, Esra widerstand der Versuchung, Mitleid zu haben, und näherte sich nicht dem Loch in der Wand. Und nach zweiundzwanzig Tagen hatte Hesekiel so viel von seiner Göttlichkeit verloren, dass Esra zur Tat schreiten konnte.
Doch zu Esras Verblüffung kam er gar nicht dazu, auch nur die Hälfte seiner Erklärung über Hesekiels Betrug vorzubringen.
»Raus! Raus!«, buhten die fünf restlichen Onkel, ihre Frauen und Kinder und die Witwe des sechsten Onkels sowie die wenigen nicht mit ihnen verwandten Juden. Sie drohten Esra mit geballten Fäusten, und zehn Minuten später stand Esra auf der Türschwelle seines Zuhauses oder richtiger auf der Türschwelle seines früheren Zuhauses.
»Wir können nicht riskieren, einen Kain an unserem Herd großzuziehen«, hörte Esra seinen Vater zischen, bevor die Tür zuknallte. Esra blieb nichts anderes übrig, als in die helle südnordische Sommernacht hinauszugehen und nach einer Bank Ausschau zu halten, auf der er schlafen konnte. Und in dieser Nacht, während die Wiederauferstandenen Christen ihre einwöchige Besetzung der Erlöserkirche feierten und er sich frierend auf einer harten Bank drehte und wendete, schwor Esra Rache – er wollte Rache nehmen an seinem Bruder Hesekiel, an seinen Eltern, an den fünf restlichen Onkeln, ihren Frauen und Kindern und an der Witwe des sechsten Onkels sowie an den wenigen nicht mit ihnen verwandten Wiedergeborenen Juden.
In einem anderen Teil von Fredenshvile schworen andere Stimmen ebenfalls lauthals Rache, nicht nur an den Wiedergeborenen Juden, sondern auch an den Wiederauferstandenen Christen, den Lämmern des Herrn und an jeder anderen Gruppe, die an etwas anderes als den einzigen wahren Glauben zu glauben wagte. Obwohl mehrere Imame der moslemischen Welt Hasan Al-Basri die Treue aufgekündigt und ihn verurteilt hatten und einige sogar forderten, ihn vor ein Scharia-Gericht zu stellen, hielten die wütenden jungen Moslems ihn für zu schwach. Sie wollten Action und Rache, nicht Gebete und Vergebung.
»Hat Mohammed nicht um Mekka gekämpft?«, riefen sie.
»Hat der Prophet nicht um Medina gekämpft?«
»Ja, wo wären die Moslems, wenn der Prophet die Ungläubigen nicht gnadenlos bekämpft hätte?«, rief eine wütende Staatswissenschaft studierende und übermäßig schöne dunkle Frau mit funkelnden Augen den vierundzwanzig wütenden jungen Männern zu, die sie in einer der Vorhallen der Universität zusammengerufen hatte. Und Aisha und die vierundzwanzig wütenden jungen Männer brauchten nicht lange, um sich zu einigen: Obwohl sie nicht genau wussten, wie sie es anfangen sollten oder was ihr genaues Ziel war, bestand kein Zweifel daran, dass eine islamische Revolution bevorstand!
»Die Sonne wird sich verdunkeln. Die Bäume werden verdorren. Eine große Kälte wird kommen. Der Himmel wird hinabstürzen, und alles wird verbrennen. Bevor das passiert, müsst ihr fort sein.« Brynhild Sigurdskaer sah den Fischer Ambrosius mit glänzenden Augen an.
Die Worte erinnerten Odin an etwas, das er früher schon einmal gehört hatte, und er sah überrascht auf. Er zog an seinem Bart und versuchte noch einmal, sich an den Inhalt der Unheilsbotschaften zu erinnern, aber vergebens.
»Wenn man sich nicht an Kleinigkeiten erinnert, vergisst man wahrlich auch das Wichtige«, sagte er, und dann fiel ihm glücklicherweise etwas ein, das er fast vergessen hatte. »Ich würde sehr gerne Ferien machen«, sagte er. »Ich würde wahrlich gerne lange und schöne Ferien machen.«
Es war der neunte Tag der Besetzung der Erlöserkirche, und alles atmete Ruhe und Frieden aus. Nachdem die Wiederauferstandenen Christen sich auf die Erlöserkirche konzentrierten und die anderen Gruppen sich etwas zurückgezogen zu haben schienen, waren die Polizeiabsperrungen zu der Kirche verlagert worden, und es bestand wieder freier Zugang zu dem Kai, an dem die Rikke-Marie lag. Zwei letzte Polizisten patrouillierten langsam hin und her, plauderten mit den Einwohnern und deren Hunden und genossen die Sonne, die ihre Gesichter und einen Teil ihrer Arme bräunte, die in kurzärmeligen
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