Im Hauch des Abendwindes
1
Australien
Sommer 1968
Es hatte den Anschein, als würde sich die Mundi-Mundi-Ebene bis ans Ende der Welt erstrecken. Während die Schatten der Nacht allmählich zurückgedrängt wurden, hüpften Riesenkängurus mit großen, mühelosen Sprüngen durch die uralte Landschaft, und ein leiser Windhauch trug das Versprechen eines weiteren sengend heißen Tages heran.
Über der scheinbar endlosen Weite rüttelten Falken, Keilschwanzadler segelten auf der Suche nach Beute anmutig durch die Lüfte. Es war der ewige Kreislauf des Lebens, der sich seit Jahrtausenden unverändert vollzog.
Ein einsamer Reiter verharrte in den ersten Sonnenstrahlen, die sich über den Horizont tasteten. Pferd und Reiter zeichneten sich dunkel gegen den Morgenhimmel ab, der mit den unglaublichsten Farben bebändert war. Das Pferd schnaubte ungeduldig, warf den Kopf nach hinten und stampfte mit dem Vorderhuf. Der Reiter beugte sich vor und schloss seine Hände fester um die Zügel. Ein Schuss aus einer Startpistole krachte. Der Knall hallte meilenweit in der Stille wider und verlor sich dann in der Unendlichkeit.
Angetrieben von Ehrfurcht gebietender Kraft schoss das Pferd davon. Eine Wolke aus rostrotem Staub wurde aufgewirbelt. Der Reiter lächelte. Die kühle Morgenluft wirkte belebend und befreiend. Das Donnern der Pferdehufe auf dem steinigen Boden der Geröllwüste war das einzige Geräusch in der vollkommenen Stille des australischen Outbacks.
Tausendfünfhundert Meter entfernt stand ein Mann mit einer Stoppuhr und wartete. Als Pferd und Reiter auf ihn zupreschten, hielt er unwillkürlich den Atem an, den Daumen auf dem Stoppknopf, bereit, ihn herunterzudrücken. Der Zauber dieses Ortes hatte ihn gefangen genommen, und er spürte, dass er Zeuge von etwas ganz Außergewöhnlichem werden würde. Es war, als hätten sich die Geister der Mundi-Mundi-Ebene eingefunden, um diesem Pferd ihren Beistand zu gewähren und es zur Höchstleistung anzutreiben.
Wie ein silberner Blitz schoss es an dem Mann vorbei. Er drückte die Stoppuhr. Sein Herz klopfte, als er den Blick senkte und auf das Ziffernblatt schaute. Er traute seinen Augen nicht. Langsam verzog er sein von einem struppigen Bart überwuchertes Gesicht zu einem Lächeln, das immer breiter wurde. Dann warf er den Kopf zurück und stieß ein lautes Freudengeheul aus. Das Pferd verlangsamte sein Tempo und kehrte schnaubend, in lockerem Trab und mit weit aufgerissenen Augen zu ihm zurück.
Atemlos und innerlich aufgewühlt von dem wilden Ritt sprang der kleine, zierliche Reiter aus dem Sattel.
»Hey, Jed, mir scheint, Silver Flake hat heute Flügel gehabt. Ich dachte schon, sie würde gleich abheben!«
»Ja, du bist geflogen wie eins von diesen Düsenflugzeugen, Kadee!« Der Trainer lachte und ahmte mit einer Handbewegung ein vom Boden abhebendes Flugzeug nach. »Wir sind bereit für den Alice Springs Cup! Silver Flake wird alle um zehn Längen schlagen. Ich sage dir, sie wird Geschichte schreiben! Du wirst noch an meine Worte denken.«
2
Am gleichen Tag in Lane Cove, einem kleinen Vorort von Sydney. Es war einer dieser typischen hektischen Samstagvormittage in Barbie McKenzies Frisiersalon in der Burns Bay Road. Barbie, ihre Angestellte Ruby Rosewell und das Lehrmädchen Marissa Kendal hatten alle Hände voll zu tun. Die Damen einer Hochzeitsgesellschaft waren gekommen, um sich die Haare machen zu lassen. Haartrockner und Trockenhauben dröhnten und brummten, in der Luft hing der Geruch von Shampoo und Haarspray, und alle plapperten wild durcheinander.
Im Hintergrund lief das Radio. Elvis Presley sang Blue Suede Shoes . Barbies Vorbild in puncto Mode und Frisur war zwar Dusty Springfield, aber sie war ein großer Elvis-Fan, und so summte sie gut gelaunt mit. Ruby und Marissa standen mehr auf die Beatles, die Rolling Stones und die Animals. Als ein paar Minuten später House of the Rising Sun gespielt wurde, stellte Ruby das Radio lauter und sang mit Eric Burdon mit. Barbie warf ihr einen finsteren Blick zu, doch das war nur Spaß. Ihre Kundinnen störte die Musik nicht im Geringsten, und sie selbst liebte die junge, beschwingte Atmosphäre in ihrem Salon.
Barbie trug ebenso wie ihre Angestellten einen schwarz-weiß gestreiften Kittel, der ein ganzes Stück über dem Knie endete, und schwarze Lacklederschuhe mit einem kleinen Absatz. Der Fußboden war schachbrettartig in Schwarz und Weiß gemustert, und große Poster jener Modeikonen, die gerade im Trend waren,
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