Ödland - Thriller
Windrad, dessen Höhe dem Minarett Konkurrenz macht, und neuere Gebäude aus Blocksteinen, auf deren Terrassen Satellitenschüsseln und Sonnenkollektoren stehen.
Abderrahmane, der Rudys Dromedar führt, lächelt fröhlich zu ihm hinauf.
»Das ist Ouled Said. Unser Dorf. Wir sind am Ziel.«
Aufgeschreckt wendet sich Rudy an Laurie.
»Er sagt, dass das ihr Dorf ist. Hieß es nicht, dass wir in ihrem Lager zum Tee eingeladen wären?«
»Zumindest habe ich es so verstanden«, erwidert sie verwirrt auf Englisch.
»Das haben wir auch gesagt«, mischt Yacine sich ein. »Aber wenn wir euch erklärt hätten, dass wir euch in unser Dorf mitnehmen wollen, wärt ihr nie und nimmer mitgekommen. Wir kennen die Europäer: Ein Wüstenlager im Erg - das hat etwas Exotisches, das hat etwas von Sahara und von Tuareg. Stimmt doch, oder?«
»Ich bin mir nicht ganz sicher, ob mir diese Art von Scherz zusagt«, gibt Laurie verärgert zurück. »Haben Sie noch mehr unangenehme Überraschungen auf Lager?«
» Elkhir-râs! ›Nur das Beste‹, wie unsere Tuareg-Freunde zu sagen pflegen. Zunächst werden wir, inch'Allah, zusammen einen Tee trinken. Dann bereiten unsere Frauen euch zu Ehren eine Mahlzeit aus Pfannkuchen, Hirse oder chinesischem Reis zu. Vielleicht gibt es auch Lammfleisch oder eine chorba, eine Fleischsuppe. Wenn es schließlich so heiß wird, dass jede Bewegung Mühe bereitet, legen wir im Schatten der Palmen eine Ruhepause ein. Anschließend könnt ihr euch auf den ahellil vorbereiten.«
»Worauf sollen wir uns vorbereiten?«
»Den ahellil. Das Fest zu Ehren unseres Marabut - möge seine Seele in Frieden ruhen -, dessen qobba ihr dort drüben über den Dächern seht. Vor dem Fest werden wir das Grabmal frisch kalken, das allerdings bleibt uns Gläubigen vorbehalten. Der ahellil ist jedoch für alle!«
»Aber ... wissen Sie, wir müssen dringend weiter.«
»Es ist unmöglich, Gourara zu durchqueren, ohne an einem ahellil teilgenommen zu haben! Das gehört unbedingt zum Pflichtprogramm. Morgen, inch'Allah, fahrt ihr weiter.«
»Was hat er gesagt?«, erkundigt Rudy sich misstrauisch.
Laurie fasst das Gespräch kurz zusammen.
»Und was ist mit dem Auto?«, ereifert er sich. »Will der Junge es etwa die ganze Nacht bewachen? Was soll das alles? Die wollen uns doch nur hier festhalten, um den Mercedes ausräumen zu können! Das wird es sein! Ich gehe sofort zurück!«
Abderrahmane, der kein Englisch versteht, wirft einen verwunderten Blick auf Rudy.
»Sag es ihm«, schimpft Rudy weiter. »Sag ihm, dass wir nicht einverstanden sind!«
»Sag es ihm doch selbst«, seufzt Laurie, sichtlich erschöpft von der Hitze. »Immerhin bist du der Mann.«
Rudy schießt ihr einen wütenden Blick zu, beugt sich zu Abderrahmane hinunter und radebrecht:
»Abderrahmane, ich möchte bitte zurück zum Lastwagen.«
»Aber das ist nicht nötig, mein Freund. Der Wagen kommt her«, gibt der Chaambi mit breitem Grinsen zurück.
Alles läuft genau so ab, wie Yacine angekündigt hat. Trotz Rudys düsterer Miene und Lauries Niedergeschlagenheit werden die beiden in Ouled Said wie Könige empfangen. Sie werden dem Bürgermeister und dem Stammesältesten der Chaamba vorgestellt und zuletzt auch noch dem Imam der Moschee, der sie für ihre lange und gefährliche Reise segnet. Anschließend trinken sie im von blühenden Mimosenbäumen beschatteten und von einer traditionellen Lehmziegelmauer umgebenen Hof von Abderrahmane mitten im alten Ksar Tee aus frischer Minze. Genau genommen sind es drei sehr starke und süße Teesorten. Die erste Tasse könnte Tote zum Leben erwecken - der Erfolg bei Laurie ist nicht von der Hand zu weisen -, die zweite ist gegen den Durst gedacht, und die dritte, hell und sanft, genau das Richtige für Kinder und empfindliche Herzen. Danach werden Rudy und Laurie getrennt. Laurie wird von den Frauen mit Beschlag belegt, Rudy dagegen von den Männern. Während die Mahlzeit vorbereitet wird, besichtigt Rudy die Gärten und den Palmenhain in Gesellschaft von Yacine und Mohamed, dem kel el mia, » Mann des Wassers«, einem kleinen, kupferfarbenen und völlig verrunzelten Alten, der kurioserweise für einen Bewässerungsspezialisten ganz schön trocken wirkt. Rudy entdeckt das einfache, unbeschreibliche Glück wieder, das er schon aus El Goléa kennt: das Spazierengehen im frischen, duftenden Schatten einer Oase, Sonnenstrahlen, die sich zwischen den Palmblättern hindurchtasten, glitzernde Lichtdiamanten auf Becken voll
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